Als absolut abstrakt, als durchsichtige, zugleich kraftvolle, reinste Form sachinhaltsloser Bewegung mit vollendeter, ja ans Wunderbare grenzender Technik – derart hingerissen feierte die zeitgenössische Kritik den Tanz der Avantgardistin Gret Palucca. Sie vermittle strahlendsten Herzens mit zartestem Charme und vor allem mit enormer, gezielt eingesetzter Sprungkraft räumlich einzigartig gestaltete Musikerlebnisse. Sie sei die stärkste tänzerische Persönlichkeit ihrer Zeit – der Welt bedeutendste Tänzerin. Was für ein beispielloses Rühmen der internationalen Kritik Bis heute gilt diese Künstlerin – eine der innovativsten, streitbarsten des 20. Jahrhunderts – als Ikone des modernen Tanzes. Für ihn fand sie, in strikter Abgrenzung zum klassischen Ballett mit seinem tradierten Formenkanon, den programmatischen Begriff „Neuer Künstlerischer Tanz“. Palucca empfand „NKT“, so das berühmte (für manche berüchtigte) Kürzel, als ihr Alleinstellungsmerkmal sowie als Signum ihrer hingebungsvollen pädagogischen Arbeit; Erfindung und Erziehung fügte sich da stets zusammen. Zunächst im privaten Dresdner Schulbetrieb und später, nach Gründung der DDR, im vom neuen Staat geförderten, schließlich gänzlich finanzierten, 1955 eigens großzügig neu gebauten Institut: „Palucca Schule Dresden“, Basteiplatz Nr. 1.
Als total aufs Praktische orientierte Pädagogin, die aus ihrer Arbeit nie ein Dogma machte, auch deshalb keine „Theorie“ hinterließ, erziehe sie Menschen durch Tanz, schrieb eine ihre berühmtesten Schülerinnen Ruth Berghaus. „Mit unanfechtbarer Autorität und ihren Maximen Disziplin, Konzentration, Präzision, Intensität und Phantasie. Wer durch ihre Schule gegangen ist, habe es nicht leicht gehabt, doch sicher mehr gelacht und mehr geweint als manch anderer.“ Da ergibt sich die Frage: Wer war diese Frau mit ihrer absolut gesetzten, radikal das freiheitliche Ich herausfordernden „Privatpädagogik“ („kreieren, nicht variieren, nachmachen oder gar klassischen Tanz imitieren“) inmitten eines politisch-pädagogisch entgegengesetzten Systems? War sie Genie, Dissidentin, Heldin, Tyrannin?
Der promovierte Tanzwissenschaftler und Choreograph Ralf Stabel, einst Lehrer an der „Palucca Schule“, Professor für Tanzdramaturgie und Tanzwissenschaft, Tanzkritiker und heute Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin (die Palucca als feindliche Konkurrenz fast schon missachtete), Stabel geht besagter Frage nach in seiner im Geist der Hochachtung und zugleich Distanz verfassten Monografie „Palucca, ihr Leben, ihr Tanz“. Der Leser kommt zu dem Schluss: Palucca war Genie, Dissidentin, Heldin und Tyrannin zugleich.
Eine stark ambivalente Persönlichkeit also, was sonst. Zur plausiblen Begründung folgen sachliche Erörterungen: Inwieweit das von ihr einzig zugelassene öffentliche Bild der Wirklichkeit entspricht (nicht ganz); was hat sie permanent verschwiegen (politische Überzeugungen) und warum (wegen ihrer herausgehobenen Position, ihrer „NKT-Schule“, die es zu bewahren galt); mit wem traf sie zusammen, mit wem hat sie ihr Leben geteilt und wie hat sie es geschafft, allen Anfeindungen zum Trotz letztlich immer „ganz oben“ zu bleiben (letztlich mit einem pragmatischen Maß Opportunismus). Bei aller menschlichen Zugewandtheit blieb sie introvertiert, begriff sich als Einzelkämpferin mit dem Weltruhm als Unterpfand. Ralf Stabel beschreibt das streckenweise sehr schwierige Behaupten ihrer Autorität als Künstlerin und Chefin, nüchtern und dennoch höchst packend, also anschaulich und – bei aller Wissenschaftlichkeit – unterhaltsam. So entstand auf 190 Druckseiten (dazu zahlreiche Abbildungen und das ausführliche Quellenverzeichnis) ein aufklärerisches Stück über DDR-Tanz- und Kulturgeschichte und darüber hinaus ein Blick auf die einschlägige Szene über neun Jahrzehnte hinweg.
Margarethe Paluka (1902–1993; seit 1921 Gret Palucca), entstammt jüdisch-bürgerlichen Verhältnissen, war Schülerin von Mary Wigman, eröffnete 1925 ihre Schule in Dresden (seit 1931 Zweigstelle in Berlin), war 1924–1930 verheiratet mit dem kunstsinnigen Industriellen Friedrich Bienert, dadurch Kontakte zum Bauhaus; später lebt sie in einer Frauen-Beziehung. 1924 Beginn der Solokarriere, 1939 Unterrichtsverbot aufgrund der NS-Rassengesetze. 1945 Wiedereröffnung des Dresdner Instituts, Lehrtätigkeit, Bühnenauftritte später nur noch wenige. Doch da ist sie ja bereits Mitte vierzig – und liefert dennoch, gelegentlich, ihre sagenhaften, faszinierend raumgreifenden Sprünge.
Mit dieser Wiedereröffnung, einem seinerzeit durchaus gefeierten Ereignis, begannen zunehmend Paluccas Schwierigkeiten: Einerseits wollte sich die Kulturbürokratie mit dem Weltstar schmücken, anderseits galt die anti illustrative, auf die innere, die seelische Freiheit zielende Kunst als bürgerlich-individualistisch, westlich-dekadent, ja mystisch – als formalistisch. Damals das allerschlimmste Verdikt. Auch die vermeintlich unwissenschaftliche, allein aufs Freisetzen improvisatorischer Fantasie gerichtete Pädagogik passte nicht zur sozialistisch gängelnden Persönlichkeitsentwicklung. Palucca erging es ähnlich Brecht: Nicht wirklich gewollt, aber als internationales Aushängeschild sehr gebraucht. Ihr von oben (Kulturminister Johannes R. Becher) generös mit Hintergedanken spendierter „sozialistischer“ Neubau galt unter der Hand der Funktionäre als „Privatschule mit gesellschaftlicher Beteiligung“ – eigentlich ein Unding.
Also will die Kulturbürokratie (die sächsische, vor allem aber die Ostberliner) unbedingt mitregieren. Palucca bockt, droht mit Abgang in den Westen, bekommt Auszeichnungen, bleibt, laviert – wie auch die Kulturpolitik laviert. Sie bekommt linientreue Direktoren, intrigiert gegen diese zuweilen bis hin zu deren Absetzung, bedient sich prominenter Unterstützer. Das DDR-Übliche: Zuckerbrot und Peitsche unter permanent heimlicher Stasi-Aufsicht. Immer wieder steht Paluccas pädagogische Weiterarbeit in der Kritik, sogar gefährlich auf der Kippe. Das alles war in derart kompakter Zusammenschau bisher noch nicht zu lesen. Schließlich folgten trotz allem offizielle Anerkennungen (Professorentitel, Ehrenbürgerschaft Dresdens). Ruhmreiche Verklärung angesichts ihres fortschreitenden Alters, aber auch gewisser vorsichtiger kulturpolitischer Liberalisierungstendenzen, der zaghaften Neubewertung der Moderne allgemein.
Doch Palucca entzieht sich stur jedweder öffentlich-feierlicher Ehrerbietung. Dennoch 1981 Nationalpreis Erster Klasse, den Preis Zweiter Klasse hatte sie 1960 harsch abgelehnt. Dessen ungeachtet bleibt es beim kleinlichen Hickhack zwischen ausgreifender staatlicher Vereinnahmung und Paluccas Beharren auf Eigenständigkeit, die freilich auch aus Altersgründen zunehmend schwindet. In der Öffentlichkeit schweigt die Umstrittene dazu – selbst nach 1990, nach Beendigung ihrer Lehrtätigkeit. Wie sie übrigens auch ihr Privates nahezu völlig geheim hält.
Gegenwärtig ist ihre inzwischen aufwändig ausgestattete „Firma“ die einzige eigenständige „Tanzhochschule“ Deutschlands mit „NKT“ als bleibendem Fach, aber eben keine „Balletthochschule“ – Gret Paluccas Triumph über den Tod hinaus. Auf eigenen Wunsch fand sie 1993 ein bescheidenes, von ihr selbst bestimmtes, im Voraus bezahltes Grab auf dem Friedhof der von ihr so geliebten Insel Hiddensee.
Ralf Stabel: Palucca. Ihr Leben, ihr Tanz, Henschel Verlag, Berlin 2019, 190 Seiten, 12,00 Euro.
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