Ohne Zweifel: Er ist ein Klassiker. Aus Anlass des 250. Geburtstages wird man in diesem Jahr seiner gedenken. Doch wie steht es um Friedrich Hölderlin in unserem Alltag? „Erreicht er uns noch, und erreichen wir ihn?“ Diese Frage steht am Ende der jüngst vorgelegten Hölderlin-Biographie von Rüdiger Safranski.
Distanziert und sachlich, ohne über „Leerstellen“ zu spekulieren, nähert sich Safranski Hölderlins Leben und Werk. So, wie wir es aus seinen Büchern über Goethe und Schiller, Schopenhauer, Nietzsche oder Heidegger kennen, beleuchtet er zunächst die Stationen von dessen Kindheit und Jugend. Er folgt ihm von Lauffen über Nürtingen, Denkendorf, Maulbronn nach Tübingen. Weiter geht es nach Waltershausen, Frankfurt, Hauptwil und Bordeaux, zu den Orten von Hölderlins Tätigkeit als Hofmeister. Im Verlaufe der Jahre traten zahlreiche Personen in sein Leben: Hegel, Schelling oder Schiller waren sicherlich die prominentesten. Nicht zu vergessen seine Beziehungen zu Louise Nast, Elise Lebret und natürlich zu Susette Gontard, dem Vorbild für „Diotima“.
Über Jahre hinweg ist Hölderlin hin und her gerissen zwischen der ihm schon früh bewusst gewordenen Berufung als Schriftsteller und dem Anspruch der Mutter, sich für eine gesicherte Existenz als Pfarrer zu entscheiden. So erklärt er ihr im Januar 1799, dass „die vielleicht unglükliche Neigung zur Poësie, der ich von Jugend auf mit redlichem Bemühn […] immer entgegen strebte, noch immer in mir ist […] in mir bleiben wird, so lange ich lebe“.
Die ersten Gedichte wurden in Gotthold Friedrich Stäudlins „Musenalmanach für das Jahr 1792“ veröffentlicht, zur gleichen Zeit arbeitete Hölderlin bereits am „Hyperion“. 1797 erschien der erste Band, 1799 folgte der zweite – doch „die Geschichte von der Geburt eines Dichters“ fand nur wenige Leser. Etliches, wie der „Empedokles“, blieb unvollendet, vieles erschien erst nach seinem Tod, so auch „Brod und Wein“, für Safranski „eines der vollkommensten und schönsten Gedichte Hölderlins“.
Aus den Erinnerungen von Varnhagen von Ense, Gustav Schwab oder Wilhelm Waiblinger wissen wir einiges über Hölderlins letzte Lebensjahre. Auch Safranski lässt die drei ausführlich zu Wort kommen, sind sie doch „die Hauptquelle, woraus sich der breite Strom der späteren Theorien über den ,Wahnsinn‘ Hölderlins speist“. Hermann Hesse, der Hölderlin mit seiner 1913 entstandenen Erzählung „Im Presselschen Gartenhaus“ ein sehr persönliches Denkmal gesetzt hat, schrieb 1941 in einem Brief dazu: Es „gibt Fälle, wo der edlere Mensch sich gegen die Brutalität des Schicksals und der Masse überhaupt nicht anders retten kann als durch den Einbau einer Isolierschicht gegen die Welt, diese Schicht nennt das Volk dann Wahnsinn; der größte, auf eine Art vorbildliche Fall dieser Art war Hölderlin.“
Vom 15. September 1806 bis zum 3. Mai 1807 war Hölderlin Patient im kurz zuvor in Tübingen eröffneten Autenriethschen Klinikum. Bei seiner Entlassung gab ihm Ferdinand Autenrieth „noch höchstens drei Jahre“ Lebenszeit – es wurden 36. Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte Hölderlin mit Blick auf den Neckar im Turm bei Schreinermeister Ernst Zimmer. Als er drei Tage nach seinem Tod am Morgen des 10. Juni 1843 bei Sturm und Regen auf dem Tübinger Stadtfriedhof beerdigt wurde, war niemand von seinen alten Freunden und Bekannten oder von der Professorenschaft zugegen. Doch immerhin: etwa hundert Studenten folgten dem Sarg. Begann damit Hölderlins Zukunft, die Zeit als „Autor des Nachruhms“?
Schon 1805/06 hatte sich ein Kreis von Hölderlin-Bewunderern um Bettine Brentano zusammengefunden. Ihr Bruder Clemens nannte den „Hyperion“ eines der „trefflichsten Bücher der Nation, ja der Welt“. Zusammen mit Gustav Schwab gab Ludwig Uhland 1826 die erste Gedichtsammlung heraus. Justinus Kerner und Joseph Görres waren von Hölderlins Schriften ebenso begeistert wie Georg Herwegh, der 1839 verkündete, Hölderlin sei „der eigentliche Dichter der Jugend“. Für Friedrich Nietzsche, so Safranski, war Hölderlin ein „König in einem noch unentdeckten Reich“. Um die Wende zum 20. Jahrhundert entdeckten ihn die lebensreformerischen Kreise und die Jugendbewegung. Wilhelm Dilthey und Stefan George beschäftigen sich mit ihm, Norbert von Hellingrath stieß auf Hölderlins Nachlass und sorgte für dessen Veröffentlichung. Im Wintersemester 1934/35 hielt Martin Heidegger seine erste Hölderlin-Vorlesung – der Beginn einer von Safranski ausführlich beschriebenen, mehr als drei Jahrzehnte währenden „Geschichte von unendlicher Annäherung“. Als sich Hölderlins Todestag 1943 zum 100. Mal jährte, begann 1943 die Arbeit an der „Großen Stuttgarter Ausgabe“. Im Verlauf von vier Jahrzehnten – erst 1985 konnte diese Edition abgeschlossen werden – legten die Herausgeber acht Bände unterteilt in fünfzehn Teilbände vor.
Safranski konstatiert: Bis heute stachelt die „Rätselfigur Hölderlin […] die Literaturwissenschaft zu Höchstleistungen an, und zwar gerade weil Hölderlin im breiten Publikum kaum mehr gelesen wird“. Dennoch sind er und sein Werk „zu bedeutsam fürs Vergessen“. Vielleicht – hoffentlich! – ist Rüdiger Safranskis Biographie Anlass genug, um wieder einmal zu Hölderlins Werken zu greifen, die erst unlängst bei Hanser in einer wohlfeilen dreibändigen Dünndruck-Sonderausgabe erschienen sind.
Rüdiger Safranski: Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund!, Hanser Verlag, München 2019, 336 Seiten, 28,00 Euro.
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (3 Bände), hrsg. von Michael Knaupp, Hanser Verlag, München 2019, 952 / 991 / 909 Seiten, 98,00 Euro.
Schlagwörter: Friedrich Hölderlin, Mathias Iven, Rüdiger Safranski