von Bettina Müller
Für den beschwerlichen Weg in den Untergrund muss man abgehärtet und gut zu Fuß sein. Es ist kalt, feucht und auch ein wenig unheimlich, zudem sind die Stufen ungewohnt hoch. Je weiter man vordringt, desto spärlicher gelangt das natürliche Licht aus dem farnumrankten Schacht nach unten in das Ungewisse. Die Natur fordert beharrlich ihren Raum und hat sich den ungünstigen Lichtbedingungen angepasst. Vor 760 Jahren war es für die jüdischen Frauen von Friedberg, circa 30 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main im Wetteraukreis gelegen, ein ganz normaler Weg, den sie aus Glaubensgründen regelmäßig einmal im Monat gingen. Hinzu kam ein weiterer Besuch jeweils einen Monat vor ihrer Hochzeit, ebenso sechs Wochen nach der Geburt eines Kindes, weil die rituelle Waschung mit dem „lebendigen Wasser“ zu ihrem Alltag gehörte. In der Mikwe, das in der Umgangssprache zum „Judenbad“ wurde, tauchten die Frauen nach der regulären häuslichen Körperpflege zu diesen Anlässen insgesamt dreimal in einen natürlichen Brunnen mit fünf Meter Wassertiefe ein, erst danach galten sie als vollständig rein („koscher“).
Ehrfürchtig verstummt man als Besucher, wenn man nach 25 Metern unten angekommen ist, denn selbstverständlich ist es nach dem Lauf der deutschen Geschichte nicht, dass eine Monumental-Mikwe, die mit aufwändigen gotischen Stilelementen versehen wurde, in Deutschland noch erhalten ist. Ausgerechnet dem SS-Reichsführer Heinrich Himmler, der einen gewissen Hang zum Okkultismus hatte, ist es zu verdanken, dass die Mikwe von den massiven Zerstörungen in der Stadt verschont blieb. Himmler versprach sich von dem Wasser eine therapeutische Wirkung und gab eine Untersuchung bei Professor Wilhelm Pfannenstiel, dem Direktor des Hygienischen Instituts der Universität Marburg, in Auftrag. Der Professor konnte zwar keinerlei heilende Wirkung des Wassers nachweisen, riet Himmler aber dennoch dazu, das „wertvolle deutsche Kunstwerk“ zu erhalten. Und Himmler fügte sich.
So taucht der Besucher die Hände ein letztes Mal in das unglaublich klare und kalte Wasser und tritt danach wieder den Aufstieg an. Zurück im Tageslicht der fast 30.000 Einwohner zählenden Kleinstadt weisen Straßennamen wie „Judengasse“ und „Judenplacken“ auf die mittelalterliche Ansiedlung von Juden hin. Deren jahrhundertelang währendes Leben in Friedberg wurde am 10. November 1938 unwiderruflich zerstört, als ein wütender Mob prügelnd und plündernd durch die Straßen zog, die Synagoge in Brand setzte, und danach nichts mehr wie früher war. Heute erinnert eine Gedenkstätte an diesen fatalen Tag. Puristisch, karg und ohne Schnörkel, mit großen Blöcken aus Ziegelsteinen, hat sie das Ziel, eine „beginnende Erinnerung und bildende Mahnung für zukünftige Geschlechter“ zu sein, wie es auf der Gedenktafel heißt.
In der rund 40 Kilometer nördlich von Frankfurt gelegenen Kurstadt Bad Nauheim, die heute vor allem für ihre Elvis-Connection bekannt ist, hat die Synagoge die Reichspogromnacht wie durch ein Wunder überlebt. Ungezählte Kurgäste kamen im 19. Jahrhundert in die Stadt, in der feudale und luxuriöse Villen noch heute von ihrem ehemaligen Reichtum zeugen. Die Religion der Besucher spielte damals keine große Rolle. Bad Nauheim boomte und war in der ganzen Welt bekannt wie ein bunter Hund. Die Anreisenden hatten eins gemeinsam: Sie hatten eine schwere Krankheit hinter sich und sollten wieder genesen, das schmiedete zusammen und ließ kulturelle und religiöse Unterschiede schnell vergessen. Insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert kamen zahlreiche jüdische Kurgäste aus der ganzen Welt, die wiederum jüdische Ärzte, Pfleger, Therapeuten et cetera anlockten. Jüdische Kureinrichtungen und Kurheime entstanden, die erste Synagoge war bereits um 1866/67 erbaut worden. Am 3. Oktober 1928 wurde der Grundstein für einen Neubau in der Karlstraße gelegt, weil die bestehende Synagoge mittlerweile viel zu klein geworden war. 1929 war der Neubau fertig, die alte Synagoge riss man ab. Das heutige Gebäude beeindruckt durch Schlichtheit und funktionale Gestaltung. Mittlerweile wird die Nüchternheit des ursprünglich weißen kubischen Gebäudeblocks durch rot gestrichene Fensterrahmen aufgelockert, die nach oben hin stark verlängert und abgerundet an den Jerusalemer Tempel erinnern sollen. Ein kleiner Davidstern über dem Eingang und zwei große, symmetrisch seitlich platzierte Sterne verraten die Bestimmung des Gebäudes, in dessen Synagogenraum heute 250 Menschen Platz finden. Die Dezenz des Äußeren wird im Inneren konsequent eingehalten, auf reichhaltiges Dekor und Schmuck wurde verzichtet. Nicht belegt ist, dass Albert Einstein, der jüdische Wurzeln hatte, die Synagoge besuchte, als er an der „86. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ teilnahm, die vom 19. bis zum 25. September 1920 in Bad Nauheim stattfand und bei der auch einige jüdische Ärzte aus der Stadt Vorträge hielten.
Sehr wahrscheinlich ist wiederum, dass unter den Versammlungsteilnehmern der Neurologe Dr. Max Isserlin aus Bad Vilbel war, das heute unweit des nördlichen Stadtrands von Frankfurt liegt. Isserlin habilitierte in München, gilt als Pionier der bayerischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und war Mitbegründer der Heckscher Klinik in München, die heute noch als Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie existiert. Ihn ereilte nach 1933 das tragische Schicksal ungezählter jüdischer Ärzte in Deutschland: der Verlust der Approbation als Anfang einer Kette von unmenschlichen Schikanen, die bei den meisten mit einem gewaltsamen Tod im Konzentrationslager endete. Dr. Isserlin indes gelang die Flucht nach England, wo er bereits 1941 starb, vergessen, entrechtet, entwürdigt. Sein Wohnhaus in der Straße „Zum Quellenpark“, die früher Hauptstraße hieß, mit auf dem Gehweg angebrachten Stolpersteinen für die Familie Isserlin steht noch im kleinen und beschaulichen Kurort Bad Vilbel, der allein schon durch seine Größe nicht mit dem mondänen Bad Homburg verglichen werden kann.
Nur circa 18 Kilometer nördlich von Frankfurt gelegen, ist Bad Homburg vor allem durch seine Saalburg bekannt, die Nachbildung eines römischen Kastells, aber auch durch eine Spielbank. Lässt man die gepflegte Innenstadt mit den zumeist gediegenen Geschäften hinter sich, fällt in der Saalburgstraße eine Friedhofsmauer auf. Und da ist sie wieder, dieselbe angedeutete Tempelform der Trauerhalle im maurisch angehauchten Baustil. Auf einen Davidstern hat man hier verzichtet. Die Grabsteine sind zumeist einheitlich groß und wenig prunkvoll, hier sind im Tod alle gleich, so wie es der jüdische Glaube eigentlich verlangt. Auf im Judentum unerwünschte Monumentalgräber, wie man sie zum Beispiel vom Jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin kennt, wird man hier nicht stoßen. Viele der hier Begrabenen sind nicht ortsansässig gewesen, oft waren es Kurgäste, die das Pech hatten, in Bad Homburg und nicht in ihrer Heimat zu sterben, und die an diesem „guten Ort“ in der Saalburgstraße beerdigt wurden. Blumenschmuck sucht man vergeblich, weil die Pflanzen dem Toten die Kraft entziehen würden, die er für den Tag der Auferstehung benötigt. Besucher verirren sich kaum hierher.
Anders sieht es in der Bad Nauheimer Synagoge aus. Menschen strömen zum Eingang. Gleich beginnt der Gottesdienst.
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