22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Gang am Inn entlang

von Renate Hoffmann

Bevor der Schnee fällt, sollte man sich gebührend vom Spätherbst verabschieden. Ich zögere. Regen, Nebel, kalte Winde … Georg Jacobi (1740–1814) spornt an: „Blätter fallen, Nebel steigen, / Und zum Winterschlafe neigen / Sich die Bäume schon auf welker Flur: / Ehe Flocken sie umhüllen, / Rede du mit mir im Stillen / Einmal noch, befreundete Natur.“ Ich lasse mich bereden, wähle ein Stück Flusslauf des Inns und fahre nach Rosenheim.
In der abendlichen Stadt suche ich vergebens nach dem Gewässer, um es zu begrüßen. „Rosenheim ist nicht direkt am Inn“, sagt die Pensionswirtin. – Der Morgenhimmel trägt eine graue Decke. Gleichmäßiges Geniesel fällt. Über dem Max-Josefs-Platz, dem früheren „Inneren Markt“, liegt sonntägliche Ruhe. Seine langgestreckten Laubengänge mit Läden und Restaurants sorgen für Intimität und trockenen Durchlauf. Auf den Stühlen der Straßencafés sitzt die Morgenfeuchte. Das „Holztechnische Museum“ hat noch geschlossen. Die prunkvollen Fassaden der Bürgerhäuser säumen den Patz und sprechen vom Reichtum der ehemaligen Handelsstadt.
Die Innstraße, vermutete ich, wird zum Inn führen. Doch es schiebt sich ein Nebenfluss dazwischen. Die Mangfall. Ein Flüsschen, das mit seiner bescheidenen Wegstrecke von 58 Kilometern dem großen Alpenfluss zustrebt. Im spitzen Winkel läuft es auf den breit und behäbig dahinfließenden Inn zu. Braunes und gletschergrünes Wasser treffen aufeinander, dulden sich eine Weile nebeneinander. Dann gewinnt der Größere die Oberhand.
Graugänse überfliegen die weite Auenlandschaft und ziehen südwärts. Nun wird es bald Schnee geben. Einige Nachzügler ruhen auf dem Flachwasser aus. Werden sie Anschluss an den geordneten Pfeilflug am Himmel finden? Der Wind weht kalt vom Fluss herüber. Er bewegt die ausgedehnten Schilfrohrwälder. Zwei Angler wärmen sich am Feuer. Sie bieten mir aus der Thermosflasche heißen Tee an. Er schmeckt nach Rauch. Der Weg folgt schnurgerade dem Flusslauf oder schweift mit ihm in weitem Bogen.
Gedämpfte Farben bestimmen die Landschaft. Feine Abstufungen, die man im Sommerlicht übersieht. Braun- und Grautöne, dazwischen welkes Gelb. Ein Farbenspiel, von Melancholie getragen. Treibgut liegt auf den Flusswiesen. Ein Silberreiher hat sich darauf niedergelassen. Ich verhalte den Schritt. Er fühlt sich gestört und schwingt elegant davon. Aus dem Weidengebüsch leuchtet das Rot der Hagebutten. Heckenrosen haben sich hier einen Platz erobert. Ein Schwarm schwarzweiß gefiederter Enten fliegt scheu auf als ich mich einem kleinen Wasserlauf nähere. Sind es Eiderenten, die doch die nördlichen Küsten bewohnen? Einträchtig schwimmt ein Schwanenpaar und Stockenten gründeln. – Außer dem Rascheln des Schilfs, wenn es der Wind streift und dem leisen Wellenschlag des Flusses stört kein Laut die Stille. – In der Dämmerung erreiche ich Rott am Inn. Man muss erst durchgefroren sein, um die warme Unterkunft im Landgasthof zu schätzen.
Die Gemeinde liegt nicht am Inn, sondern über dem Inn, mit Fernsicht bis zur Bergkette der Alpen. – Die weitläufige Anlage der ehemaligen Benediktiner Abtei birgt ein Kunstwerk hohen Ranges. Die Klosterkirche St. Marinus und St. Anianus. Einstens fast zum Ruin des Klosters gereicht, nunmehr dem Auge ein Vergnügen. Der eher schlicht gehaltene Sakralbau mit zwei ungleich hohen Türmen lässt nichts Außergewöhnliches vermuten. Doch mit dem Eintritt wird man von jubelndem Rokoko empfangen. Lichtdurchflutet, heiter, festlich beschwingt, dem Lebensgefühl dieser Stilrichtung Rechnung tragend. Feinste Stuck- und Bilderhauerarbeiten; die Rocaille – die Muschel – vielfach gewandelt; Blumenschmuck wie aus dem Garten Eden. Kartuschen mit Engeln besetzt oder verspielte Puttos auf Wolken sitzend. Die Deckenfresken sind voller irdischen und himmlischen Lebens. Zierliche Gitter schmücken Eingang und Emporen. Blütenranken und figurale Plastiken umrahmen den Hochaltar. –
Ich suche den „Rotter Engel mit dem Kardinalshut“ und finde das schelmische Wesen am Leonhard-Altar über der Skulptur des Heiligen Petrus Damian, einem Kardinal aus dem 11. Jahrhundert. Ein Putto setzt sich schwungvoll den breitkrempigen, flachen, scharlachroten Hut mit den seitlichen Quasten auf den Kopf. Man erzählt: Ein Kind des Bildhauers Ignaz Günther habe sich Vaters Hut für ein Spiel geholt, und das sei die Anregung für das lustige Figürchen gewesen.
Als Initiator dieses Wunderwerkes aus der Zeit des Rokokos gilt Abt Benedikt II. Lutz (1720–1777). Von der Idee beseelt, die romanische baufällige Basilika durch einen Neubau zu ersetzen, wählte er Künstler von bestem Ruf, die seine Vorstellungen kongenial umsetzten: den kurkölnischen Hofbaumeister Johann Michael Fischer (1692–1766), Ignaz Günther, den Bildhauer (1725–1775), den Maler Matthäus Günther (1705–1785). Und aus der Wessobrunner Schule den bekannten Stuckateur Jacob Rauch (1718–1788) und seine Gewerksleute. Zwischen der Grundsteinlegung 1759 und der Kirchenweihe 1763 lag eine erstaunlich kurze Bauzeit. Das Werk war im Wesentlichen vollendet, das Kloster hoch verschuldet, Benedikt Lutz musste gehen.
Im Vorwort zu einem Gesangbuch für den Chordienst (1764) wird dem scheidenden Abt Genüge getan: „ […] Es entstand ein Gotteshaus – geschmückt mit Gemälden und Statuen, wie sie kaum von Apelles oder  Phidias nachgeahmt werden können […] Als heiliger Verschwender warst du bereit, dafür alle zeitlichen Güter hinzugeben, um die Frömmigkeit als geistlichen Edelstein Allen zu erschachern.“
Ich gehe hinunter zum Fluss. Brücken erlauben es, die Ufer zu wechseln – Der Wanderweg führt durch Naturschutzgebiete. Hin und wieder ertönt ein Krähenschrei. Graureiher stehen am Schilfrand. Reglos und kaum von ihrer Umgebung zu unterscheiden. Kleine Ortschaften sind wie ausgestorben. Glockenschläge verklingen wahrscheinlich ungehört.– Der Fluss ist mir inzwischen zum Vertrauten geworden. Wir begegnen und entfernen uns, wie die Wege es wollen.
Wasserburg am Inn siedelt nun wirklich am Inn. Auf einer wie ein Tropfen geformten Halbinsel. Ich laufe durch die Nagelschmiedgasse, die Bäckerzeile, unter den Arkaden des Marienplatzes entlang und bewundere die Zeugen der alten reichen Handelsstadt. Die Bruckgasse geleitet zum Inn und zur Roten Brücke. Seit siebenhundert Jahren ein wichtiger Flussübergang mit bewegter Historie. Hier nehme ich Abschied von meinem gletschergrünen Begleiter, der zur Donau strebt. Ich wende mich nach Norden.