22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Velázquez und die „Meninas“

Zum 200. Geburtstag des Prados

von Renate Hoffmann

Wer nach Madrid reist und das Museo Nacional Del Prado – eines der weltweit bedeutendsten Kunsthäuser – betritt, ist verloren. Verloren in der Überfülle von Meisterwerken berühmter Künstler. In den Sälen verteilt: Velázquez und die spanische Malerei. Dürer, Mengs, Hieronymus Bosch (von den Madrilenen „El Bosco“ geheißen) und sein „Garten der Lüste“. Raffaels „Kardinal“; Tizian und Tintoretto; El Greco, der eigentlich Dominikos Theotokópoulos hieß; Ribera, Rubens und „Die drei Grazien“; Rembrandt, Van Dyck; Goya und „Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid“ (ein Gemälde vor dem man erschüttert steht) und die „Majas“, bekleidet und unbekleidet. Nur Weniges von Vielem. Denn allein schon etwa 3000 Gemälde entstammen der Zeit zwischen 12. und 18. Jahrhundert. Der Reichtum der Kunstschätze führt bis in die Moderne.
Ich flüchte zu Diego Rodriguez de Silva y Velázquez (1599–1660), von dem es heißt, wolle man dem Prado eine künstlerische Zentralfigur geben, so sei er es. Abgesehen von seiner Zeit in Sevilla und den italienischen Reisen, entstand der Hauptteil seiner Werke am Hof König Philipps IV in Madrid. Velázquez mit der Begabung, das Wesen, den Charakter eines Menschen bloßzulegen und auf die Leinwand zu übertragen, macht ihn zum herausragenden Künstler. Die dreißig Jahre bei Hofe und die Gunst und Wertschätzung des Königs lassen ihn höher und höher steigen. Vom Königlichen Hofmaler zum Kammerherrn, Adjutant des Garderobiers, Superintendant der königlichen Bauwerke, Hofmarschall. Er erhält den Adelstitel. Aber mit dem Aufstieg wachsen die Pflichten. Die Zeit zum Malen schwindet. Doch die Nobilitäten und der König samt seiner Familie wünschen auch weiterhin porträtiert zu werden. Für den Maler sind es die Jahre erheblicher höfischer Anforderungen, jedoch auch die Zeit höchster künstlerischer Reife.
Von den Werken dieser seiner letzten Lebensjahre wird ein Gemälde besonders hervorgehoben: „Las Meninas“ („Die Hoffräulein“, auch „Die Familie Philipps IV.“ genannt, 1656). „Ohne Zweifel das bekannteste Gemälde des Prados, das berühmteste seines Autors und jenes, das die Charakteristiken von Velázquez’ Kunst am besten zusammenfasst.“ (Museumsführer des Prados).
Im Mittelpunkt steht, das Licht und die Augen aller auf sich ziehend, ein adrettes Persönchen. Die Infantin Margarita Teresa von Spanien. Fünfjährig, blond und Philipps Liebling. Ein rosiges, rundes Kindergesicht mit wachen, etwas skeptisch blickenden Augen und einem Stupsnäschen. Ihr offenes Haar hält ein Kopfschmuck zurück. In silberglänzenden Taft mit schwarzroter Rosette gekleidet und sich ihrer Hübschheit bewusst, posiert sie wie eine kleine Prinzessin (die später römisch-deutsche Kaiserin werden wird). Es fehlt nur das Krönchen.
Zwei junge „Meninas“ umsorgen sie. Man kennt ihre Namen. Maria Agustina Sarmiento kniet der Infantin zur Linken und bietet ihr aus einem Tonkrug Wasser an. Und zur Rechten Isabel de Velasco, leicht vorgeneigt. Will sie Margarita etwas zuflüstern? Mit ins Bild aufgenommen sind auch die Zwergin Maribárbola und der freche kleine Narr Nicolasito Pertusato. Dieser Übermut ärgert den spanischen Mastiff, einen Gemütshund, der sich durch Nicolasitos Fußtritt nicht stören lässt. Hinter ihnen unterhält sich Marcela de Ulloa, eine ältere Dame, mit dem Leibwächter. In der Tiefe des Raumes sieht man auf der Treppe José Nieto, den Kammerdiener der Königin. Kommt er oder geht er?
An der Wand hängt ein Spiegel, der das Königspaar Philipp und Anna Maria von Österreich reflektiert. Wo befinden sie sich eigentlich, wenn man sie en face im Spiegel erkennen kann? – Stolz und selbstbewusst stellt sich Velázquez in den Kreis der königlichen Familie. Eine große Leinwand neben sich, Pinsel und Palette zur Hand und den Schlüssel des Kammerherrn sichtbar angebracht. – Im Saal 12 gehe ich auf das große Gemälde zu, als wäre ich zur Morgenvisite geladen. Margarita empfängt. Mit ihrem Liebreiz gewinnt sie jeden Besucher.
Wieder in den Straßen Madrids, scheint es, als seien die beiden anmutigen Hofdamen Maria Agustina und Isabel in der Zwischenzeit dem Gemälde entstiegen. Heimlich. Ich begegne ihnen allüberall. An Straßenecken, vor Galerien, auf Plätzen, in Parkanlagen, vor Kaufhäusern, Lokalen, historischen Gebäuden und vor dem Alcázar. In grenzenloser Fantasie gestaltet, tummeln sie sich in der Stadt. Mehr als 50 Figuren, 1,80 m groß und als Straßenmuseum in der „Meninas Madrid Gallery“ vereint. Bildende Künstler und interessierte Amateure erhielten die Gelegenheit, sich nach eigenem Gusto ihre Menina zu erschaffen. Neugierig und vergnügt halte ich Umschau.
Die Hübschen sind in der Grundform und der Mode ihrer Zeit entsprechend einheitlich angelegt: ein breiter flacher Reifrock und die helmartige, an den Seiten toupierte Haartracht. Nun aber unterliegen sie der modernen individuellen Gestaltung: Ganz in Rot, weiß und schwarz gestrichelt; Gold oder Nachtblau mit Sternen übersät; Brille, Bart und Hut aufgetragen; eine Blütenfülle auf dem Reifrock – Flora persönlich. Bemalt mit Autos, Katze, Gitarre, Regenschirm und Hochhaus – aus dem Stadtleben. Abstrakt und realistisch, kariert und gestreift, mit Flügeln und gepunktet. Klassisch streng oder auch mit einem Blumengarten auf dem Kopf.
Die „Meninas“ machen die aufregende Stadt Madrid auch zu einer heiteren Stadt. Welches Glück, dass Diego Velázquez sie ins Bild setzte.