22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Geisteswissenschaftliche Misere

von Erhard Crome

Der großartige Umberto Eco behandelt Ende der 1990er Jahre in seinen „Vier moralischen Schriften“ die „politische Korrektheit“ unter der Überschrift „Intoleranz“ – zwischen Fundamentalismus, Integralismus (der Position, die Regeln für das politische Gemeinwesen aus religiösen Glaubenssätzen abzuleiten), Rassismus und Hexenverfolgung. Sein Diktum lautete, die political correctness sei in den USA entstanden, „um die Toleranz und die Anerkennung aller religiösen, rassischen und sexuellen Unterschiede zu fördern, aber sie entwickelt sich immer mehr zu einem neuen Fundamentalismus, der in fast ritueller Weise die Alltagssprache durchdringt und sich zum Schaden des Geistes an den Buchstaben klammert. Inzwischen darf man einen Blinden notfalls auch diskriminieren, solange man das Zartgefühl hat, ihn einen ‚Nichtsehenden‘ zu nennen, und vor allem darf man diejenigen diskriminieren, die sich nicht an die Regeln der political correctness halten.“
Zwanzig Jahre später ist das Thema noch virulenter geworden. Hans Ulrich Gumbrecht, Romanist und Literaturwissenschaftler, emeritierter Professor der kalifornischen Stanford Universität, der auch an Universitäten in Montreal, Paris und Friedrichshafen lehrte, griff in der Neuen Zürcher Zeitung dieses Thema mit Bezug auf die Aufklärung auf. Zunächst stellt er fest: „Kein Tag vergeht mehr ohne öffentliche Scharmützel über die politische Korrektheit, in denen sich ihre Kritiker und Befürworter beleidigen – und immer weiter voneinander entfernen. Nach der neuen Lehre, die längst nicht mehr allein an den Universitäten herrscht, sondern inzwischen selbst in Verwaltung und Privatwirtschaft Einzug gehalten hat, lassen sich ethische Probleme grundsätzlich in zutreffende (oder eben ‚korrekte‘) Antworten und folglich in bindende, mit Zwang durchzusetzende Handlungsanweisungen überführen. Man hat tolerant zu sein und divers, egalitär und öko-etatistisch.“ Hier gehe es um die „Betonung kultureller wie geschlechtlicher Identitäten“, soziale Anerkennung, eine Egalisierung von finanziellem und kulturellem Kapital „und schließlich eine Reihe von ökologisch begründeten, meist im Gestus der Selbstbestrafung für zurückliegende Sünden verkörperten Abstinenzregeln, die angeblich das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde gegen vielerlei Bedrohungen garantieren“.
Gumbrecht sieht hier einen Begriff von Aufklärung walten, den er dem Sozialismus zuschreibt. Der habe intellektuell bereits am Beginn des Kalten Krieges abgewirtschaftet, doch war er „noch nicht wirklich an seinem Ende angekommen“. Nach dem Ende des Staatssozialismus sei er „mit dem Aufstieg einer neuen, sozialdemokratisch gesinnten Mittelklasse von Angestellten und Beamten in den Alltag zurückgekehrt – eben als die Matrix einer politisch korrekten Ethik, welche Alternativen nicht mehr zulässt“.
Nun mag man konzedieren, dass der stalinistische Typus von Sozialismus sehr wohl seine „politisch korrekte“ Sprache durchzusetzen bestrebt war, ebenfalls als Herrschaftsinstrument, doch war der gerade nicht von Marxens Geist durchseelt, wie auch die sozialdemokratische Mittelklasse von heute in keiner Weise. Und die sich gerade deshalb am Buchstaben festklammert, weil sie die Freiheit des Geistes fürchtet. Das hat sie mit Stalin gemein.
Hier trifft sich eine gesellschaftskritische Sichtweise mit der vom Konservatismus herkommenden Mainstream-Kritik Gumbrechts. Er verweist auf Walter Benjamins Bild vom „Engel der Geschichte“, der einer angeblich offenen Zukunft den Rücken zuwendet und auf die Opfer der Vergangenheit schaut, auf Karl Löwith, der warnte, dass jeder Versuch, aus der Geschichte notwendige Konsequenzen abzuleiten, zu totalitären Potenzialen führe, sowie auf Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“, wonach die einseitige Kanonisierung von Vernunft und Rationalität den „Widerstand gegen die nationalsozialistische Industrialisierung des Tötens neutralisiert haben“. Insofern beruft sich Gumbrecht auf ein anderes Erbe der Aufklärung, das sich als individuelle Skepsis versteht und die Bereitschaft einschließt, „sich über Unterschiede des Urteilens wie des Erfahrens zu verständigen“ und „Widersprüche wahrzunehmen“. Oder mit Marx: „An allem ist zu zweifeln.“ Skeptiker wie sich heute als progressiv Verstehende berufen sich auf die Aufklärung, haben jedoch einen jeweils anderen Begriff von ihr.
Ursachen für die Aufwallung politisch-korrekter Rechtgläubigkeit verortet Gumbrecht auch in den Innereien der postmodernen Geisteswissenschaften. Mit der Frage: „Wer würde denn die Geisteswissenschaften vermissen?“ verbindet er zunächst seine Zustandsbeschreibung: „Die Geisteswissenschaften steigern ihre angebliche Professionalität zu einem immer absurderen Missverhältnis zwischen dem geforderten Arbeitsvolumen und dem fortschreitenden Ausschluss potenziell interessierter Adressaten.“ Die durchschnittliche Leserzahl von akademischen Publikationen liege unter zehn Gelehrten pro Artikel. In der Schweiz gebe es drei romanische Nationalsprachen und ausgezeichnet besetzte Institute für Romanistik, doch in manchen Jahren bleibe die Zahl der eingeschriebenen Studenten im einstelligen Bereich. An der Kölner Universität dagegen seien Tausende Studenten in diesem Fach eingeschrieben, von denen jedoch nur ein Bruchteil jemals an einer Lehrveranstaltung teilgenommen hab – sie brauchten die Immatrikulation nur wegen der Krankenversicherung.
Schaut man in die Geschichte, so wurde nach der Theologie mit der Aufklärung die Philosophie zur Orientierungswissenschaft, seit Beginn des 20. Jahrhunderts überlagert von der Soziologie. Zu jener Zeit bemühten sich in Berlin die Geisteswissenschaften um einen Kontrapunkt zu den kraftvoll erstarkenden Naturwissenschaften, verwandelten sich jedoch – wie Gumbrecht hervorhebt – nach 1918 in politische Theologien: die einen leiteten aus dem kulturellen Erbe Überlegenheitsansprüche der „Rasse“, die anderen eine Mission „des Proletariats“ ab. Unter Bezugnahme auf angloamerikanische Sichtweisen sei daraus im Westen Deutschlands nach 1945 ein „Habitus der Reue“ geworden, das ideologische Zuarbeiten galt nun als Sündenfall. Gleichwohl stellten „gegenintuitive Theorieentwürfe“ (Gumbrecht) von Strukturalismus über Diskursanalyse, Dekonstruktion bis zu Medienforschung nach 1968 „eine hektische Resonanz“ der Geisteswissenschaften „auf den Zusammenbruch zentraler Werte und Dynamiken der bürgerlichen Gesellschaft“ dar. Als zusammengebrochen galten der Fortschrittsglaube, die Überzeugung, die technologischen Entwicklungen und ihre Folgen kontrollieren zu können, und die Gewissheit, stets mit den richtigen ethischen und politischen Entscheidungen aufwarten zu können.
Insofern verkörpert die politische Korrektheit das Bemühen, „in Zeiten neuer Herausforderungen und der von ihnen ausgehenden Unsicherheiten“ Orientierungen im Namen der Moral geben zu können. Zugleich rängen die Geisteswissenschaften verbissen „um ihre wissenschaftlichen Standards, während sie dieselben jedoch zugleich ständig untergraben“. Sie sollten zurückfinden „zu einem säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation“. Ihr gesellschaftlicher Beitrag müsse darin liegen, nicht in einem „neuen Moralismus“.
In diesem Sinne kann man Gumbrecht auch so lesen: Ohne die Indienstnahme geisteswissenschaftlicher Befunde bleiben die moralinen Ansprüche unbehaust und zeigen sich in ihrer ganzen Blöße. Oder anders gesagt: die sozialdemokratisch gesinnte Mittelklasse von Angestellten und Beamten hat keine wirkliche gesellschaftspolitische Idee. Sie kann nur ein sprachpolitisches Korsett anbieten. Das jedoch soll auch verhüllen, dass sich diese Mittelklasse längst von jeglichem Versuch verabschiedet hat, die soziale Frage gegen die Interessen des Kapitals beantworten zu wollen. Hier sind wir allerdings weit jenseits von Gumbrecht.