22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Stippvisite in Gdańsk *

von Hannes Herbst

Dass ein Hotel in Gdańsk ausgerechnet den Namen „Fahrenheit“ trägt, schreibt nur der dem polnischen Hang zur teils skurrilen Extravaganz zu, wer, wie der Autor, nicht weiß, dass die gleichnamige Temperaturmessskala von einem 1686 gebürtigen Danziger entwickelt worden ist – dem deutschen Physiker und Erfinder Daniel Gabriel Fahrenheit, der auch als Begründer der modernen Thermometrie gilt. Seine Erfindung machte er jedoch nicht in Danzig, sondern in den Niederlanden, wohin der früh zur Waise gewordene junge Mann des Broterwerbs wegen seinen Lebensmittelpunkt verlegen musste. In Herzen von Gdańsk, auf dem Langen Markt, erinnert eine kleine naturwissenschaftliche Installation an ihn. Aber dort, wo man heute noch in Fahrenheit misst, etwa in den USA, so wird in Gdańsk erzählt, kennt nahezu niemand diesen historischen Ursprung.

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Apropos Extravaganz: Die kann in Gdańsk in einer katholischen Kirche, in diesem Fall der Brigittenkirche, schon mal die Gestalt eines Hochaltars aus Bernstein annehmen. Aber Vorsicht! Wer meint, das sei doch das paläontologische, vornehmlich gelbe bis braune Zeugs, aus dem sich besonders gut geschmackloser Tand zum Neppen von Touristen fertigen lässt, der ist hier arg auf dem Holzweg. Der teils abstrakte Altar ist elf Meter hoch und in seiner Mischung aus Traditionellem und Modernem von beindruckender Expressivität.
Gewidmet ist der Altar jenen 28 Werftarbeitern, die bei den Protesten im Dezember 1970 von der damaligen Staatsmacht getötet wurden.
Die Kirche selbst war noch 1945 größtenteils zerstört worden. Weiteres erledigte ein Feuer im Jahre 1957. Der Wiederaufbau ab 1970 erfolgte auf Initiative Henryk Jankowskis, jenes Pfarrers und späteren Probstes, der auch des damaligen Werftarbeiters und späteren polnischen Präsidenten Lech Wałęsas Beichtvater war. Jankowski unterstützte schon früh die sich formierende Solidarność-Gewerkschaft, die den Untergang des real existierenden Sozialismus im sowjetisch beherrschten Ostblock mehr als nur anstieß. Die Brigittenkirche war zuerst heimlicher, dann offener Treffpunkt der unabhängigen Gewerkschafter.
Zu dieser Geschichte gehört allerdings auch, dass Jankowski im Jahre 2004 in den Verdacht der sexuellen Belästigung von Ministranten geriet und von seinem Erzbischof vom Amt des Pfarrers an der Brigittenkirche entbunden wurde. Im Jahre 2005 verlor Jankowski überdies einen Berufungsprozess gegen den Schriftsteller Paweł Huelle, der in der Zeitung Rzeczpospolita über ihn geschrieben hatte: „Der Pfarrer der Kirche der heiligen Brygida versteht das Evangelium überhaupt nicht und stellt sich ostentativ gegen die Lehren des Papstes […] Ich weiß nicht, wie viele Male ich in der Kirche der heiligen Brygida noch hören werde, dass die Juden unser Land zerstörten und die Europäische Union ein Komplott ist mit dem Ziel der Zerstörung Polens. […] Er ist eine Mutation eines Mitarbeiters des polnischen Nachrichtendienstes mit der […] kommunistischen Phobie, auf alles Fremde zu spucken: Juden, Schwule, Euroenthusiasten.“

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Ist man schon mal in Gdańsk, dann ist es bis zur größten, zu ihren Zeiten uneinnehmbaren Kreuzritterfeste, der Marienburg in Malbork – die der Deutsche Orden sich als Hauptsitz für seinen Ordensstaat hatte errichten lassen und später, als er knapp bei Kasse und eh auf dem Rückzug war, verkaufen musste – nur noch ein Katzensprung von etwa 60 Kilometern.
Mit dem Auto fährt man dorthin gegenwärtig allerdings noch eine weite Strecke neben, teils auch auf einer noch nicht fertiggestellten Autobahn. Zweispurig. Also in jede Richtung nur eine Spur. Das Tempolimit liegt bei 60 Kilometern pro Stunde, die kein polnischer Autofahrer einhält, wenn die Straße vor ihm frei ist. Wenn die aber von einem Fahrzeug mit deutschem Kennzeichen und offenbar einem der Landessitten unkundigen Fahrer blockiert ist, dann kommt es zu blitzartigen Überholmanövern, deren Akteure sich den Schneid weder von Sperrlinien zwischen den Fahrbahnen noch von entgegenkommenden Fahrzeugen und schon gar nicht vom Tempolimit nehmen lassen. Wenn man am seit Jahren belasteten deutsch-polnischen Verhältnis nicht weiter zündeln will, passt man sich – nolens, volens – dem einheimischen Tempo am besten an. Das allerdings ist bei 80 Kilometern pro Stunde noch längst nicht ausgereizt … Geschwindigkeitskontrollen scheinen in Polen nicht zum Alltag zu gehören, so unser Eindruck nach 14 Tagen Rundreise.
Über die Marienburg selbst ließ uns unsere Burgführerin unter anderem Folgendes wissen:
Der Deutsche Orden mit seinen Ursprüngen im Heiligen Land und bereits 1199 päpstlich bestätigt, dessen Mitglieder wegen des im Ordenswappen geführten Kreuzes Kreuzritter genannt wurden, überzog seinen 1230 im südöstlichen Ostseeraum gegründeten Ordensstaat mit einem dichten Netz von Burgen und Wehrkirchen, die nie weiter als 30 Kilometer, oft weniger, voneinander entfernt lagen. Denn jedes Ordensmitglied, ob zu Pferde oder zu Fuß unterwegs, sollte sein Haupt des Nachts in gesicherten Mauern betten können. Das war auch nötig, denn die auf dem Gebiet des nunmehrigen Ordensstaates schon von alters her siedelnden heidnischen Volksstämme waren keineswegs erbaut von der Fremdherrschaft, die daher nicht mit Samthandschuhen aufrechtzuerhalten war. Das filmische Nationalepos der Polen schlechthin, „Die Kreuzritter“ (1960), wusste dies beredt ins Bild zu setzen.
Die im 13. Jahrhundert direkt an der Nogat, einem Mündungsarm der Weichsel, errichtete Marienfeste mit einer Ausdehnung (inklusive Vorburg) von ehemals 80 Hektar war zwischen 1309 und 1454 der Sitz der Komture, der Hochmeister, des Deutschen Ordens.
Profan, aber von täglicher Bedeutung: Die zahlreichen Menschen, die die Marienburg seinerzeit beherbergte, mussten ihre Notdurft allesamt in einem dem Kernbereich der Burg vorgelagerten, nur über einen steinernen Wehrgang zu erreichenden Turm verrichten. Die Ausstellung an diesem Ort informiert zugleich darüber, dass infolge der noch nicht absehbaren Erfindung des Klopapiers Weißkohlblätter zum Einsatz kamen. Da mag man sich Belagerungszeiten gar nicht vorstellen, in denen wohl auch das welkeste Kohlblatt eher als Grundnahrungsmittel denn als Beitrag zur Individualhygiene gedient haben dürfte.
Im ganzen riesigen Burgkomplex gab es aber immerhin zwei individuelle Toiletten – eine für den Chef des Hauses, den Komtur, versteht sich. Und die andere bezeichnenderweise für den Chefkoch in dessen immer warmer, weil direkt über der Burgküche gelegenen Wohnung. Letzteres war ebenfalls ein unschätzbares Privileg in einer Zeit, in der die meisten Räume der Burg auch im Winter nicht beheizbar waren.
Der Deutsche Orden erhielt seine entscheidende Klatsche bekanntlich bereits im Jahre 1410 – durch ein polnisch-litauisches Heer in der Schlacht bei Grunwald. Danach befand sich der Orden im Niedergang.
Er besteht aber immer noch!
Heute mit Sitz in Wien und etwa 1000 Mitgliedern.
Wie heißt es doch so schön?
Totgesagte sind unsterblich.
Oder so ähnlich.

* – Der erste Gdańsk-Beitrag ist in der Blättchen-Ausgabe 21/2019 erschienen.