22. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2019

Stippvisite in Gdansk

von Hannes Herbst

Vor der Ankunft von Kolumbus in Amerika und der Entstehung von Kolonien auch in Afrika und Asien, wodurch die Bedeutung des Ostseeraumes für den internationalen Überseehandel stark zurückgehen sollte, war Danzig eine der reichsten Städte Europas, wenn nicht die reichste überhaupt. Das ist an der prachtvollen historischen Altstadt, die am Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört war, aber meisterlich rekonstruiert wurde, noch heute zu sehen.
Die Danziger Kaufleute hatten das königlich garantierte Monopol auf den Getreidehandel und profitierten von der Zusicherung, der einzige Seehafen an der polnischen Ostseeküste zu bleiben.
Jahrhunderte später wurde das zum Problem, als das zuvor deutsche Danzig nach dem Ersten Weltkrieg nicht, wie das Umland, Polen zugeschlagen, sondern unter Völkerbundsmandat gestellt wurde. Durch den sogenannten Polnischen Korridor hatte das Land nun zwar wieder Zugang zur Ostsee, aber keinen eigenen Hafen. Und im Danziger gab es ständig Querelen mit den Deutschen. 1920 etwa wurde die Entladung von Munition für die polnischen Streitkräfte behindert, als die Rote Armee auf Warschau vorrückte. So bauten sich die Polen in Gdynia, bis 1918 nur ein Dorf, schließlich ihren eigenen Hafen.
Die Danziger Kaufleute im Mittelalter waren aber nicht nur Handelsprofis, sondern auch sonst mit allen Wassern gewaschen. Das residenzartig im Stile des flämischen Manierismus von 1564 bis 1568 als Stadttor und Unterkunft für durchreisende Könige errichtete Grüne Tor (so genannt wegen seines früheren Anstrichs) bauten sie direkt im Hafenviertel, vis-à-vis der Speicherinsel. Ständiger Hafenbetrieb sorgte für Lärm, üble Gerüche und andere Belästigungen, so dass die Könige lieber privates Quartier bei Honoratioren in der Stadt nahmen. Das soll zum Beispiel Verhandlungen über die jährlichen Steuerbelastungen und ähnliche Fragen durchaus begünstigt haben. Im Sinne der Danziger.
Als ich 1974 das erste Mal in Danzig weilte, war das Grüne Tor mir längst ein Begriff, zählte doch die Trilogie des polnischen Militärfliegers und späteren Schriftstellers Janusz Meissner über „Jan Kuna, genannt Marten, Kapitän des Kaperschiffes ‚Zephir‘“ zu jenen Abenteuerschwarten, die ich in meiner Jugend gleich den „Drei Musketieren“ und den Romanen von Jules Verne immer wieder verschlang. Meissners Werk wurde in der DDR, wo dessen erster Band bereits 1960 erschienen war, ein Bestseller – mit fünf Auflagen bis 1989.
Und der dritte Band, in dem sich Kunas Schicksal in Danzig schließlich tragisch vollendet, er wird hingerichtet, heißt – „Zielona Brama“ („Das Grüne Tor“).

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Dem Reichtum Danzigs ist es sicher auch mit zuzuschreiben, dass die Marienkirche oder „Kathedralbasilika der Himmelfahrt der Allerheiligsten Jungfrau Maria“, so ihr offizieller Titel, eine der größten Hallen- und Backsteinkirchen weltweit ist. Die Gdansker sagen mit dem ihnen eigenen Selbstbewusstsein – die größte. Errichtet von 1343 bis 1502 im gotischen Stil.
1525 erreichte die Reformation die Stadt und auch die Marienkirche. Doch der Konfessionswechsel war nicht für die Ewigkeit. Seit dem weitgehenden Verschwinden der deutschen Bevölkerung Danzigs im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges ist das Gotteshaus wieder gut katholisch.
Gottseidank gehört das Triptychon „Das Jüngste Gericht“ von Hans Memling nicht zu jenen 40 Prozent an Kunstwerken, die bei der Befreiung der Stadt 1945 mit der Kirche zusammen zerstört wurden. Das Original hängt heute im Nationalmuseum in Danzig, aber eine Kopie ist auch in der Marienkirche zu sehen.
Das Schicksal des Triptychons kann durchaus als Abbild der europäischen Geschichte seit der Zeit seiner Entstehung gelten: Ein früherer Geschäftsführer der Medici-Bank in Brügge hatte das Werk 1467 bei Memling in Auftrag gegeben – für ein Kloster im italienischen Fiesole nordöstlich von Florenz. Doch das Schiff, das das Bild im Jahr 1473 nach Italien bringen sollte, wurde kurz nach dem Auslaufen von einem Schiff der Hansestadt Danzig gekapert. Merke: Bei ausreichend hoher Gewinnerwartung waren sich ehrbare Kaufleute auch damals schon für nichts zu schade. So kam das Memling-Gemälde in die Ostseemetropole. Der dortige Bürgermeister schenkte es der Marienkirche. Später wollten es ein Habsburger Kaiser und ein russischer Zar kaufen und erhielten Absagen. Napoleon wiederum fragte erst gar nicht, ebenso wenig wie die sowjetischen Befreier 1945. Beide ließen den Memling mitgehen, doch beide Male kehrte das Gemälde zurück.
Sprung in die Gegenwart: Am 19. Januar 2019 wurde in der Marienkirche der fünf Tage zuvor von einem Attentäter ermordete Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz beigesetzt.

Wird fortgesetzt.