von Manfred Orlick
Es existieren unzählige literarische Verarbeitungsversuche, die sich mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und ihren dramatischen Folgen auseinandersetzen. Das historische Ereignis, durch das diese Texte geprägt wurden, behält weiterhin seinen herausgehobenen Stellenwert. Seither geistern Begriffe wie „Wendeliteratur“ oder „der Wenderoman“ durch diverse Buchankündigungen und Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte der letzten drei Jahrzehnte. Dabei ist eine klare Definition schwierig. Die Beschreibung von Missständen, die zur Wende geführt haben … die Schilderung der Wendeereignisse selbst … oder die Darstellung des Lebens in den Nachwendejahren?
Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Arne Born hat nun pünktlich zum bevorstehenden 30. Jahrestag des Mauerfalls eine literaturgeschichtliche Gesamtdarstellung der Wendeliteratur vorgelegt, die sich von der Zeit vor dem Mauerfall über die Wendeereignisse bis zu den veränderten Lebensverhältnissen nach der deutschen Einheit erstreckt. Darin versucht er auf die Frage „Wie hat die deutsche Literatur auf die Wiedervereinigung reagiert?“ keine politischen und gesellschaftlichen Antworten zu finden – vielmehr stehen die künstlerischen Aspekte der Literatur im Vordergrund.
Im Einführungskapitel beschreibt der Autor zunächst überblicksartig Konzepte und Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung. Anschließend wird der aktuelle Forschungsstand zur literarischen Auseinandersetzung mit der deutschen Einheit dargelegt und differenziert bewertet. In den folgenden fünf Kapiteln arbeitet Born dann vier Phasen der Wendeliteratur heraus, wobei er unter Phase einen zeitlichen Zusammenhang der Texte versteht.
In der ersten Phase der „Politisierung“ entstanden vorrangig Texte mit einer unmittelbaren Gegenwartsbezogenheit. Neben ostdeutschen Schriftstellern, die bis 1989 in der DDR lebten (wie Volker Braun, Christoph Hein, Stefan Heym, Christa Wolf), waren es mit Günter Grass, Martin Walser, Rolf Hochhuth oder Friedrich Christian Delius auch westdeutsche Autoren, die sich der Thematik annahmen. Sie verfolgten aber (bis heute) mit einer gewissen Fremdheit den politischen Umbruch in Ostdeutschland. Eine Art „ostwestdeutschen“ Status besaßen die ausgereisten beziehungsweise ausgebürgerten Autoren Monika Maron, Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Bernd Wagner.
Im Gegensatz zum politischen Engagement der ersten Phase definierten sich die Texte der zweiten Phase „Subjektive Erkundung“ als persönliche Verunsicherung, was sich vor allem in autobiografischen Erzählformen äußerte. Überwiegend ostdeutsche Autoren (so Fritz Rudolf Fries, Heinz Czechowski, Thomas Rosenlöcher) waren die wichtigen Vertreter dieser inneren Erkundungsphase, waren sie doch „von den gesellschaftlichen Veränderungen existenziell betroffen“. Zu dieser Phase gehörten auch die „komischen Wenderomane“ (Bernd Schirmer, Jens Sparschuh und Thomas Brussig), die mit einem ironischen Ansatz und grotesker Übertreibung Zeitkritik vermittelten.
In der dritten Phase – ab 1995 – verstärkte sich dann die Tendenz zur Darstellung „komplexer gesellschaftlicher Strukturen“, an der ost- und westdeutsche Autoren (Erich Loest, Wolfgang Hilbig – Botho Strauß, Thomas Hettche) beteiligt waren. Born nennt diese Phase „Literarische Konstruktionen“, die diese unterschiedlichen Werke zusammenhielten.
Die vierte Phase der Wendeliteratur – beginnend mit der Jahrtausendwende – wurde vor allem von realistischen Romanen geprägt: „Simple Storys“ (Ingo Schulze), „Colón“ (Jan Groh) und „Paradies“ (Bernd Wagner). Trotz unterschiedlicher Charaktere der Protagonisten einte diese Romane eine detailgetreue Darstellungsweise – basierend auf unparteiischen Beobachtungen. Bedingt durch die zeitliche Distanz sind sie vielleicht die stärksten und aussagekräftigsten Werke der Wendeliteratur, die natürlich nicht 2000 endet. Denken wir nur an „Der Turm“ (2008, Uwe Tellkamp), „Adam und Evelyn“ (2008, Ingo Schulze) oder „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (2011, Eugen Ruge).
In seiner multiperspektivischen Literaturgeschichte, die sich auch an eine nichtwissenschaftliche Leserschaft richtet, beschränkt sich Born meist auf erzählende Texte, da die Themen der deutschen Einheit und der Nachwendejahre weitaus häufiger prosaisch als lyrisch oder dramatisch gestaltet wurde. Seine 74 kompakten Werkanalysen möchte Born gleichzeitig als Kanon der Wendeliteratur vorschlagen, wobei jeder Leser (vor allem der ostdeutsche) sicher sein eigenes Lektüre-Richtmaß hat.
Arne Born: Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000 – Fremdheit zwischen Ost und West, Wehrhahn Verlag, Hannover 2019, 654 Seiten, 39,80 Euro.
Schlagwörter: Arne Born, deutsche Einheit, Literaturgeschichte, Manfred Orlick