von Jürgen Leibiger
Der Internationale Währungsfonds (IWF), dessen Gründung auf die Beschlüsse der Bretton-Woods-Konferenz vor 75 Jahren zurückgeht, brachte auf der Titelseite der Juni-Ausgabe seines Magazins Finance & Development eine Karikatur, die Christine Lagarde, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Geschäftsführende Direktorin gekündigt hatte, im Gespräch mit John M. Keynes zeigt. Keynes (1883–1946) war gekommen, um zu schauen, was aus der Organisation geworden ist, die unter seiner maßgeblichen Mitwirkung gegründet worden war. Drei Seiten lang tauschten sich die beiden aus und am Ende lässt der IWF-Historiker Atish R. Gosh, Autor des fiktiven Dialogs, den Überraschungsgast resümieren: „Ich sehe, der IWF liegt in guten Händen. Und wenn der IWF in guten Händen liegt, liegt auch die Welt in guten Händen.“
Die Eloge geht nicht nur an der Realität vorbei, sie rückt auch Keynes in ein falsches Licht. In Wirklichkeit entsprach die Institution, so wie sie gegründet worden war, überhaupt nicht seinen Vorstellungen. Und was die Gegenwart anbelangt, würde er sich – wie es Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, ehemals Chefökonom der Weltbank, der Schwesterbehörde des IWF, in seinem Insider-Bericht „Die Schatten der Globalisierung“ von 2002 ausdrückte – wohl „im Grabe umdrehen“.
Zentrale Aufgabe des IWF sollte die Festigung der Stabilität der Weltwirtschaft sein. Eine Krise wie die von 1929/33 und eine anschließende große Depression sollten künftig verhindert werden, indem die Staaten sich in ihrer Finanz- und Währungspolitik abstimmten. Keynes schlug vor, eine Internationale Clearing Union und eine goldgedeckte Verrechnungseinheit, genannt „Bancor“, zu schaffen. Gegen Staaten, die permanente Handels- und damit Überschüsse oder Defizite in dieser Reservewährung aufweisen, sollten symmetrische Sanktionen wirksam werden. Damit würde dem Entstehen weltwirtschaftlicher Ungleichgewichte vorgebeugt und eine Beggar-thy-Neighbor-Politik auf Kosten anderer Länder verhindert werden. Keynes scheiterte mit seinem Vorschlag.
Die USA setzten ein System durch, das auf dem US-Dollar als goldgedeckter Leitwährung beruhte. Diese als Bretton-Woods-System bezeichnete Weltwährungsordnung brach knapp dreißig Jahre später zusammen, weil die immer stärker defizitäre USA die Welt mit ihren Dollars überschwemmte und dessen Bindung an das Gold letztlich aufgeben musste. Die an den Dollar gebunden festen Währungskurse waren nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Schaffung der sogenannten Sonderziehungsrechte (SZR) durch den IWF knüpfte 1969 zwar an Überlegungen von Keynes an, aber die SZR sind keineswegs als umfassende internationale Verrechnungs- und Reserveeinheit, wie sie ihm mit dem Bancor vorschwebte, konzipiert.
Wie die Wirtschafts-, Währungs- und Finanzkrisen bis in die heutigen Tage zeigen, hat der IWF sein Ziel, eine stabile Weltwirtschaftsordnung zu schaffen, also keineswegs erreicht. Nachdem Bretton Woods zusammengebrochen war, gewann der IWF zwar an Bedeutung, aber nicht etwa, weil er die globale Finanzwelt stabiler gemacht hätte. Vielmehr wurde diese zunehmend labiler und der IWF musste als lender of last resort verschiedenen Staaten immer öfter aus der Schuldenklemme helfen. Darüber, ob das als erfolgreiche Politik gelten kann, lässt sich streiten. Der IWF hat damit zwar kurzfristig vielleicht Schlimmeres verhütet, aber er hat Krisen nicht verhindert, und seine Kredithilfen waren für die betroffenen Länder alles andere als segensreich. Die Bedingungen, unter denen er überschuldeten Staaten mit Krediten unter die Arme griff, beruhten seit den 1980er Jahren auf dem sogenannten „Washington Consensus“. Danach gibt es Kredite nur unter der Bedingung einschneidender Wirtschaftsreformen. Sie zielen fast immer auf Defizitabbau, Privatisierung, rigorose Sparmaßnahmen, umfassende Deregulierung und Liberalisierung der Binnen- und Außenwirtschaft.
Das alles sind nicht nur Maßnahmen, die konträr zu den Vorstellungen von Keynes sind, sie sind neben ihrem asozialen Charakter zudem nicht geeignet, die Stabilität des globalen Finanzsystems dauerhaft zu erhöhen. Es ist ja gerade dessen Deregulierung, die zu den jüngsten Finanzkrisen nicht unerheblich beigetragen hat. Kredite des IWF gibt es also nur zu Lasten der jeweiligen Bevölkerung und zu dem Zweck, die Forderungen privater Finanzmarktakteure zu bedienen. Das Pulver zur Sprengung des internationalen Finanzsystems wird seinen Sprengmeistern zurückgegeben.
Unter der Ägide der Französin Christine Lagarde waren aus dem IWF zwar gelegentlich auch keynesianisch inspirierte Töne zu vernehmen, so zum Beispiel wenn die deutsche Regierung aufgefordert wurde, mehr für die Binnennachfrage zu tun, oder wenn davor gewarnt wurde, aus Angst vor einem Haushaltsdefizit die Austeritätspolitik zu überziehen. Die reale Kreditvergabe folgte aber unverändert der sogenannten makroökonomischen Konditionalität, wie der Washington Consensus und das Auferlegen von „Strukturanpassungsprogrammen“ offiziell genannt wird. Gelegentlich, wenn es politisch opportun erscheint, wird davon freilich abgerückt. So erhielt beispielsweise die ukrainische Poroschenko-Regierung 2014 trotz vielfältiger Risiken und ökonomischer Bedenken einen Milliardenkredit. Wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in „Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben“ schreibt, „wollten die größten Anteilseigner des IWF nicht, dass das neue pro-westliche Regime in Kiew nur Wochen nach einer Anti-Putin-Revolution für bankrott erklärt wurde.“
Christin Lagarde übernahm ihre Funktion beim IWF 2011 übrigens entgegen aller Forderungen, die Führung dieser Institution, die in Absprache mit den USA bis dato von Europäern geleitet worden war, einem Finanzexperten aus den Schwellenländern zu übergeben. Es war nicht Lagardes unbestrittene Expertise, weswegen sie ausgewählt wurde, sondern die Tatsache, dass die damalige französische Finanzministerin im Zusammenhang mit der europäischen Schuldenkrise als verlässlich im Hinblick auf die Wahrung der europäischen und US-amerikanischen Finanzinteressen in der Euro-Krise galt.
Die Kungelei dieser Interessengruppen kann auch heute gut beobachtet werden. Die Personalrochade in der EU – die Berufung Ursula von der Leyens an die Spitze der EU-Kommission und von Lagarde als Chefin der Europäischen Zentralbank – erfolgte zwar in Übereinstimmung mit den entsprechenden Regelungen und Satzungen, entbehrt aber einer Legitimation im Geiste einer wirklichen Demokratie. Das wird auch bei der Berufung des Nachfolgers oder der Nachfolgerin von Lagarde beim IWF nicht anders sein. Die EU-Länder und die USA verfügen über so große Kapital- und Stimmanteile beim IWF, dass sie alle politischen und finanziellen Entscheidungen dominieren können. Dieses Machtkartell könnte nur dann aufgebrochen werden, wenn die Alternativen zum IWF, die zum Beispiel von den BRICS-Ländern oder in Asien aufgebaut werden, so erfolgreich würden, dass sich der IWF zu Reformen seiner Governance-Regeln gezwungen sieht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt das freilich nicht gelten; es sei „ein europäischer Anspruch, wieder den Präsidenten des IWF zu benennen“ lässt sie verlauten. So ist eigentlich nur klar, dass der Postenschacher gegen eine französische oder eine deutsche Präsidentschaft spricht. Nicht wenige Stimmen favorisieren den ehemaligen Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem aus den Niederlanden. Der war zuzeiten der europäischen Schuldenkrise mit den markigen Worten berühmt geworden, „wer Solidarität einfordert, hat auch Pflichten. Ich kann nicht mein ganzes Geld für Schnaps und Frauen ausgeben und anschließend um Unterstützung bitten.“ Da fällt einem doch glatt Lagardes Vorgänger Dominique Strauss-Kahn ein, der wegen seiner Sex- und Party-Affären vom IWF-Chefposten zurück treten musste. Liegen der IWF und die Welt also wirklich in guten Händen?
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