22. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2019

Neues aus meinem Krankenhaus

von Erhard Weinholz

Weshalb ich diesmal hier bin, ist wohl nicht so wichtig. Behandelt werde ich mit einem Breitband-Antibiotikum, das, wie es in der Chefvisite hieß, fast immer zum Erfolg führt. Und falls er sich einmal nicht einstellt, hilft eines der Spezialmittel – wo die zuschlagen, bleibt kein Keim auf dem anderen. Aber bei mir ging es zum Glück auch so.
Mein Zimmer, ein Zweibettzimmer, ist klein und eng, doch gehört zu ihm ein angrenzender Aufenthaltsraum: Zwischen kahlen Wänden stehen drei Stühle um einen Tisch, auf dem neben dem Krankenhaus-Speiseplan die vorletzte Nummer der Apotheken-Umschau liegt. Ob sie alle zwei Wochen durch die nächste vorletzte Nummer ersetzt wird, konnte ich in den wenigen Tagen meines Aufenthaltes nicht ermitteln. Genutzt wird der Raum so gut wie nie.
Auf der Station sieht man vor allem dicke ältere Männer, die mit Volksredner-Stimme telefonieren. So richtig ins Gespräch gekommen bin ich bislang mit keinem von ihnen. Allein bin ich hier dennoch nicht: Meine Gedanken sind ständig bei mir.
Acht Uhr morgens ist es inzwischen. Unten auf dem Hof beginnt man Grünanlagen und Wege zu verschönen. Zwei Männer beschneiden mit Motorsägen die Hecken. Die eine Säge surrt nur leise, die andere macht etwas mehr Geräusch. Weit übertroffen wird sie von einer Art Mähmaschine, einem kleinen Teufelsding, das das Gras in den Pflasterritzen vertilgt. Wohl eine höchst wichtige Arbeit, denn weshalb sonst dürfte sie so viel Krach machen? Noch einmal laut wird es am Abend: Dann beschallt das Freilichtkino gleich nebenan uns Patienten, die wir endlich schlafen wollen. Schluss ist meist erst gegen Zwölf. Meine Freundin B. rät mir, den Kinobetreibern eine Stummfilm-Woche zu empfehlen.
Viel wird auf der Station für die Bereicherung unseres Wissens getan. Doch während die telefonierenden dicken Männer uns vorwiegend Einzelheiten aus dem eigenen Privatleben mitteilen, hören wir von einer Assistenzärztin Wichtiges aus dem Leben Dritter, das diese gern für sich behalten hätten. Einen älteren Herrn belehrt sie in meinem Beisein, was zu tun sei, falls er an einer bestimmten – heimtückischen – Krankheit leide. Dass ihm das peinlich ist, scheint sie nicht zu bemerken. Sie ist eine der vier oder fünf Assistenzärzte aus dem Nahen oder ferneren Osten, die die Personalnot hier auf der Station lindern helfen – vielleicht geht man bei ihr zu Hause mit solchen Dingen anders um? Wieder unter uns, zitiert der alte Herr, den ich bis dahin als Weltkenner erlebt hatte, zu meiner Überraschung Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“.
Mehr noch als durch mündliche Mitteilung erfahren wir durch Aushänge. Ein Zertifikat auf dem Stationskorridor lässt uns wissen, das Personal dieser Station habe alle Anforderungen gemäß ISO 9001 erfüllt. Soll das heißen, dass es stets fleißig gearbeitet hat? Oder dass es die Station frei hält von Konservierungsstoffen und Geschmacksverstärkern, von Giftgas und Atomraketen? Dazu lesen wir hier nichts. Obendrein ist das Zertifikat schon seit langem ungültig. Ein großes Infoblatt daneben zeigt uns, wer hier einst tätig war und wie Chefin und Oberärzte in ihrer Jugend ausgesehen haben.
Wirklich aufklärend sind hingegen jene großen Wandtafeln, die kaum jemand eingehend mustert – dabei gehen chronische Venen-Erkrankungen oder Krampfaderleiden doch uns alle an! Ebenso könnten die Typologie der Fußpilze oder ein Überblick „Schweißdrüsen-Ekzeme einst und jetzt“ der Betrachtung wert sein. Für Geschichtsfreunde von Interesse wären schließlich die berühmten „Fünf Stadien der Gehirnerweichung nach Prof. Possendorf-Possenhofen“ und die Darstellungen walachischer Trinkerlebern nach Prof. Kurkumowski-Anisowitsch, die einst in keinem Haushalt fehlen durften.
Auch die Herren Professoren sind auf solchen alten Tafeln abgebildet: stechender Blick, pechschwarze gewaltige Vollbärte, auf der Brust Ordensblech. Schaut man genauer hin, erkennt man: Es sind beide Male der Orden der hl. Bizerba 4. und der hl. Zekiwa 3. Klasse, beides käufliche Auszeichnungen des Großfürstentums Radunski, das vor vielen Jahren schon unter unrühmlichen Umständen von der politischen Landkarte verschwunden ist. Das trinkfeste, lebensfrohe Volk der Radunsen ernährte sich unter anderem davon, abenteuerlustige Globetrotter auf halsbrecherischen Pfaden gründlich in die Irre zu führen; ihre Skelette verkaufte man an allerlei Medizinaleinrichtungen.
Ein solches Knochengerüst steht auch in einem der Fenster im Seitenflügel gegenüber, und in manch schlafloser Nacht – denn schlafen kann ich in diesem Krankenhaus so gut wie gar nicht – hatte ich befürchtet, dass es mich bald nach Mitternacht zu sich herunterwinken würde. Es wäre kein gutes Omen gewesen. Doch es riefen zu jener Stunde nur hin und wieder zwei, drei Käuzchen. Heute Morgen setzte sich dann ein Meisenpaar in mein Fenster; sein Zwitschern verhieß mir: Der Tag wird gut, wird rasch vergehen, bald kehrst du nach Hause zurück.