von Bettina Müller
Der kleine blonde Junge ist irgendwie unheimlich. Steht einfach nur da und fixiert etwas, das nur für ihn sichtbar zu sein scheint. Hinter ihm lauern noch mehr blonde Kinder, die ebenfalls die Aura kleiner Gefrierschränke verbreiten: unmenschlich, unerbittlich, ohne jegliche Empathie. „Midwich Cuckoo“ heißt der Ort in dem britischen Science-Fiction-Film „The Village of the Damned“ (Das Dorf der Verdammten) aus dem Jahr 1960 nach dem Roman von John Wyndham. Darin ist Martin Stephens Teil einer Truppe merkwürdiger Kinder, die telepathisch miteinander in Verbindung zu stehen scheinen und eine verängstigte Dorfgemeinschaft terrorisieren. Am Ende legt der glücklose George Sanders als tapferer Dorfarzt ein Haus mitsamt seiner blonden Horrorbewohner in Schutt und Asche, kommt dabei aber selber ums Leben. Dass die ganze Sache nicht gut ausgehen würde, ahnt der Zuschauer schon früh. Die geballte Ladung an kühlem und fatalistischem Blond in Kindsgestalt, die auch auf dem Reißbrett eines Adolf Hitler hätte entstehen können, versetzt ihn in ständige Alarmbereitschaft.
Der am 15. Juli 1949 in Southgate bei London geborene Martin Stephens stand schon im zarten Alter von fünf Jahren vor der Kamera und überzeugte mit seiner kindlichen, aber überhaupt nicht kindischen Performance. So konnte er bereits 1958 in seinem zweiten Film „Law & Disorder“ neben dem britischen Star und späteren „Sir“ Michael Redgrave glänzen. Es folgten weitere Rollen, zum Beispiel in dem Abenteuerfilm „Harry Black & the Tiger“ mit dem draufgängerischen Stewart Granger. Der Film wurde in Indien gedreht, was für den Jungen natürlich zu einem unvergesslichen Abenteuer wurde. Um 1960 wuchs seine Popularität stetig, mit besagtem Film über das dem Tode geweihte Dorf erreichte sie den Höhepunkt. Der Streifen wurde zum Kultfilm und in belanglosen Remakes kopiert, die aber nie die Perfektion des Originals erreichten.
Indes wurde die prägende Rolle auch zu Stephens‘ Verhängnis, haftete ihm nun doch die Aura des Bösen, des Unheimlichen, des blonden „Satansbraten“ an. Kein Wunder, dass der britische Regisseur Jack Clayton ihn 1961 für seinen klassischen Gothic Horror Film „The Innocents“ (Das Schloß des Schreckens) verpflichtete, der zum Meisterstück des jugendlichen Darstellers wurde. Das Casting war schnell entschieden. Martin überzeugte den Regisseur durch seinen ruhigen, aber extrem charismatischen Auftritt. Seine Präsenz und ein paar Blicke reichten, um zu verstören. Und doch brachte er auch eine gewisse Würde mit – ein kleiner großer Gentleman mit perfekten Manieren.
Hurtig ging es für Stephens auf in das fiktive „Bly House“, zurück in die Zeit des viktorianischen Englands. Der puritanischen Pfarrerstochter Miss Giddens alias Deborah Kerr wird darin übel mitgespielt. Michael Redgrave, dem sie nur kurz begegnet, zu dem sie aber schnell in Liebe entflammt, wird ihr Arbeitgeber. Er schickt die unerfahrene Gouvernante auf seinen idyllischen Landsitz mit wunderschönem Park und See, wo sie seinen Neffen und seine Nichte in den Sommerferien betreuen soll, weil deren Eltern nicht mehr leben. Vogelgezwitscher und Sonnenschein, Idylle auf dem englischen Land, ein Sommer, der nicht mehr enden will. Doch langsam machen sich Schatten des Ungewissen und vor allem des Übernatürlichen breit, das vermeintliche Paradies wird bedroht, die weiße Kleidung der engelsgleichen Kinder Martin Stephens und Pamela Franklin wird beschmutzt. Sind sie es selber, die mit dem Schmutz werfen, oder können sie nichts dafür? Denn das Gespenst von Miss Giddens Vorgängerin, der unglücklichen Miss Jessel, geht um, die von dem sinistren Wildhüter Peter Quint geschwängert und in den Selbstmord getrieben wurde. Die beiden scheinen aus dem Jenseits Besitz von den Kindern zu ergreifen, oder ist das alles nur die Phantasie der unerfahrenen Miss Giddens, die sich sehnsüchtig wünscht, dass der „Master“, der Onkel der Kinder, doch nur zurückkommen möge? Es ist unter anderem diese Ambiguität, die den Film so spannend macht, aber auch der Drehort trug dazu bei: Sheffield Park Garden, ein wunderschöner Landsitz mit traumhaftem Garten in der Grafschaft Sussex. Unvergesslich der Moment, in dem Miss Giddens und ihre beiden Schützlinge ein Picknick am See veranstalten. Weiße Blüten fallen unheilschwanger zu Boden, plötzlich verstummt das Vogelgezwitscher und die Kinder schauen starr und wie Zombies in die Ferne auf das andere Ufer, dort, wo sich das Schilf unheilvoll im Winde wiegt und geheimnisvoll rauscht. Und da steht sie auf einmal, ganz in schwarzen Taft gehüllt, Miss Giddens, der Engel des Todes. Lockt, klagt an, hadert mit ihrem Schicksal, will aus ihrer Zwischenwelt zurück zu den Kindern und vor allem zu ihrem Geliebten.
Jack Clayton ist es zu verdanken, dass die Performance der beiden Kinder so perfekt und natürlich gelang. Bis fast zum Schluss ließ er sie vor jedem Drehtag darüber im Ungewissen, wie es mit der Geschichte weitergehen würde, und verhinderte so eine gekünstelte Atmosphäre, ein jegliches Nachdenken über die Rolle; schließlich waren sie Kinder und sollten es im Film auch bleiben, trotz allem. Besonders Martin Stephens hatte eine ganz besondere Aura des Übernatürlichen, die man nicht spielen kann, die instinktiv ist, auch irgendwo in seiner Persönlichkeit verankert sein muss, dort aber noch schlummert und nur in dieser seltsamen Zwischenwelt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter zum Vorschein kommen kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass Kinderstars mit zunehmendem Alter meist ein wenig seltsam werden, dem Alkohol oder anderen Drogen verfallen oder sonst auffällig werden, weil sie mit dem frühen Ruhm nicht zurechtkommen. Nicht so Martin Stephens. Er entschied sich, seine Filmkarriere zugunsten seiner Liebe zur Architektur aufzugeben. Sein letzter Film war wieder ein Horrorfilm, „The Witches“ (1966), diesmal aus dem wenig subtilen britischen Hause „Hammer“, die vor allem für ihre Dracula-Reihe mit Christopher Lee bekannt war. Die Rolle hinterließ jedoch keinen bleibenden Eindruck, der kindliche Charme auf der Leinwand war verflogen, aber auch das Ambivalente, das Übernatürliche und latent Unheimliche in seiner Präsenz. Den „Kinderstar“ gab es nicht mehr und ob man den Ruhm ins Erwachsenenalter übertragen konnte, war fraglich. Stephens entschied sich nach diesem Film endgültig für ein Architekturstudium in Belfast und Bristol. Nach seinem Abschluss machte er sich als Architekt selbstständig.
Heute lebt Martin Stephens zusammen mit seiner Ehefrau und drei Hunden in Portugal. Er hat tatsächlich eine Verbindung zum Spirituellen, ist der uralten indischen Vipassana-Meditationstechnik verbunden, die man auch auf seinen besten Film „The Innocents“ anwenden könnte, nämlich die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, um somit verstörende Ambiguität auszuschließen. Gelegentlich reist er noch in Sachen „Midwich Cuckoo“ zu Science-Fiction-Conventions, dort ist er bis heute unvergessen. Blond ist er schon lange nicht mehr. Am 15. Juli feiert der ehemalige Kinderstar seinen 70. Geburtstag.
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