von Manfred Orlick
Im April 1838 begannen Jacob und Wilhelm Grimm mit der Arbeit an dem „Wörterbuch der deutschen Sprache seit Martin Luther“, dem umfassendsten und bedeutendsten Werk zur deutschen Sprache. In den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei hatte das Projekt eine patriotische Dimension, es sollte die einende Kraft der deutschen Sprache hervorheben. Die Gebrüder unterschätzten allerdings den Aufwand beträchtlich; rechneten sie doch lediglich mit sechs oder sieben Bänden und einer Arbeitsdauer von fünfzehn Jahren. Bis zu ihrem Tod konnten sie jedoch nur die Fertigstellung des ersten beziehungsweise des dritten Bandes vorantreiben. Erst 123 Jahre später, nach etlichen Forschergenerationen, fand am 10. Januar 1961 der „Grimm“, wie das lexikalische Sprachprojekt bis heute genannt wird, seinen vorläufigen Abschluss. Damit versammelte das „Wörterbuch“ in 32 Bänden rund 320.000 Stichwörter mit ihren Bedeutungen und Belegstellen, die das erste Vorkommen und die Verwendung des Wortes nachweisen.
Der Verleger Peter Graf hat sich nun die Mühe gemacht, aus dieser 34.824 Seiten umfassenden „Wunderkammer der deutschen Sprache“ ein handliches Taschenbuch mit 352 Seiten zu machen. Also auf ein Prozent seines Umfangs geschrumpft. Oder anders ausgedrückt: das Gesamtgewicht von 84 Kilogramm des Originals auf knapp 500 Gramm reduziert. Wie das? Nach Lust und Laune – ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch – hat er die seltsamsten und wunderbarsten Wortschöpfungen aus dem Mammutwerk herausgefischt. Für Graf war es eine Reise zum Ursprung der deutschen Sprache.
Herausgekommen ist eine fast poetische Sammlung von Wortschönheiten – von „abmurzeln“ bis „Zwischenlichtenstunde“ –, die zum Staunen und Schmunzeln anregt. Einige Beispiele gefällig: „busenguckerisch“ (nach dem Busen schielend), „getümmelmüde“ (die Ruhe suchend), „Ranzenreiter“ (Postknecht), „schalatzen“ (schlendern) oder „trübetümpelig“ (traurig, niedergeschlagen). Für den heutigen Leser, der meist mit „cool“, „super“, „megageil“ und Anglizismen sprachlich hantiert, sicher manche Wortüberraschung. Die Lektüre besitzt neben dem Erkenntnisgewinn auch einen hohen Unterhaltungswert. Bei der Lektüre der Belegbeispiele stößt man nicht nur auf die Poetik bedeutender Schriftsteller und Geistesgrößen sondern auch auf Wortfindungen des Volksmundes. Das war bereits ein wichtiges Anliegen der Gebrüder Grimm, die auch die Sprachvitalität der Mundarten ausdrücklich berücksichtigten.
In seiner Einleitung „Zum Gebrauch dieses Buches“ beleuchtet der Herausgeber kurz die Historie des „Grimmschen Wörterbuches“, das stets auch die deutsche Geschichte widerspiegelte. Dabei setzt er sich kritisch mit dem „Schatten“ des Wörterbuches auseinander, denn auch zwischen 1933 und 1945 wurde an ihm gearbeitet … und so finden sich in der digitalen wie auch in den antiquarisch erhältlichen Printausgaben noch völlig unkommentierte Begriffsbelege aus der Nazi-Literatur wie dem „Völkischen Beobachter“. Dieser Zustand lässt sich für Graf durch nichts entschuldigen und sollte eine baldige Änderung erfahren.
Auf den amüsanten 352 Seiten findet sich von alledem natürlich nichts, vielmehr besticht das Taschenbuch mit einem zweifarbigen Druck und seiner grafischen Gestaltung. Eine „dritthimmelverzückte“ Neuerscheinung, die für Graf auch zum Gesellschaftsspiel und Rätselraten taugt: Was könnte z. B. ein „Krähwinkler“ sein? Oder was könnte „wickeldiewackel“ bedeuten? Schockschwerenot!
Peter Graf (Herausgeber): Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2019, 352 Seiten, 12,90 Euro.
Schlagwörter: Jacob und Wilhelm Grimm, Manfred Orlick, Peter Graf, Wörterbuch