von Edgar Benkwitz
Ohne Zweifel hat Narendra Modi indische Geschichte geschrieben. Nach den legendären Politikern Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi ist er der dritte Premierminister in der nahezu 75-jährigen Geschichte des modernen Indien, der mit einer absoluten Mehrheit zum zweiten Mal in Folge mit seiner Partei Parlamentswahlen gewinnen konnte. Sowohl Nehru als auch seine Tochter Indira waren in Indien äußerst populär, ihr Ansehen galt auch weltweit. Narendra Modi führt den indischen Staat erst seit fünf Jahren, er ist aber auf dem besten Wege, seine berühmten Vorgänger an Popularität einzuholen.
Bei den vor zwei Wochen erfolgten Parlamentswahlen errang seine hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) 303 von 543 Sitzen. Mit ihren verbündeten kleineren Parteien kommt sie sogar auf 353 Sitze. Für die absolute Mehrheit sind 272 Sitze notwendig. Wie schon 2014 endete der Indische Nationalkongress (Kongresspartei) desaströs mit 52 Sitzen auf dem zweiten Platz. Vor fünf Jahren, als Modi zum ersten Mal sensationell das Amt des Premierministers errang, sprach man von einem Erdrutschsieg und einer Modi-Welle. Zahlenmäßig ist dieses Wahlergebnis jetzt noch überboten worden. Ganz Indien ist beeindruckt, das Ergebnis wird allseitig akzeptiert.
Dabei wirkte die Regierung noch vor einigen Monaten geschwächt, und die Stimmung schien sich gegen sie zu drehen. Die politische Opposition, die sich vor allem aus der Kongresspartei und etwa zehn großen regionalen Parteien zusammensetzt, war auf dem Vormarsch, Landtagswahlen in drei wichtigen Bundesstaaten gingen für die BJP verloren. Doch man hatte die Stärke und das wahltaktische Vorgehen der Regierungspartei unterschätzt. Vor allem verfügt sie mit Narendra Modi über einen Spitzenpolitiker, der über große Popularität, Charisma und Redetalent verfügt. Den Armen und Diskriminierten steht er allein schon dadurch nahe, dass er aus einer niedrigen Unterkaste und ärmlichen Verhältnissen stammt und bis heute die Arroganz und Verachtung von Vertretern höherer Kasten ertragen muss.
Sein Ansehen gründet sich auch auf seine Leistung als Regierungschef. Trotz einer gemischten Bilanz hat Narendra Modivieles angepackt, wichtige Reformen auf den Weg gebracht und erstmalig in der indischen Politik tabuisierte Felder beschritten – wie Hygiene und Sauberkeit sowie die Rolle der Frau. Sein Auftreten gegen Korruption hat ihm viele Feinde eingebracht. Wohl erstmalig in der jüngeren Zeit gab es in einer Legislaturperiode keinen Korruptionsfall in einer Ministerriege. Neidvoll musste die politische Opposition zudem zuschauen, wie Fragen der nationalen Sicherheit zu einem zentralen Wahlthema gemacht wurden. Anlass war der von pakistanischen Terroristen inspirierte verheerende Anschlag in Kaschmir und der darauf folgende indische Luftangriff auf terroristische Basen in Pakistan. Narendra Modi führte sich als entschlossen handelnder Premierminister vor, der sich vom Erzfeind Pakistan nichts gefallen lässt – das entsprach so recht dem nationalen Empfinden der Massen und überlagerte wochenlang alle anderen drängenden Probleme. So ist es nicht überraschend, dass viele Inder wegen eines Narendra Modi zur Wahl gingen und somit seine Partei und deren Kandidaten wählten.
Viele Beobachter sind der Auffassung, dass die Parlamentswahlen sich so zu einem Referendum für Narendra Modi gestalteten. Die Times of India stellt dazu fest, dass kurioserweise die Oppositionsparteien diesen Prozess noch unterstützten, indem sie ihre Bemühungen nur noch auf die Person Narendra Modi richteten, ihn zu diskreditieren versuchten und persönlich angriffen. Einen regelrechten Hass auf den Premierminister entwickelte der Präsident der Kongresspartei, Rahul Gandhi. Er ließ keine Wahlrede aus, in der er Modi nicht als korrupt und als Dieb bezeichnete. Selbst einen Urteilsspruch des Obersten Gerichts, das sich in Indien eines ähnlichen Ansehens erfreut wie das Verfassungsgericht hierzulande, verdrehte er in sein Gegenteil und beschuldigte Modi weiter der Korruption. Dafür wurde er vor das Gericht zitiert und musste sich für seine Aussagen entschuldigen. Ein Tiefschlag für die Kongresspartei mitten im Wahlkampf! Das traf auch Priyanka Gandhi-Vadra, seine jüngere Schwester. Sie ist die Nummer drei in der Nehru-Gandhi-Dynastie und wurde als „Geheimwaffe“ kurzfristig im Wahlkampf eingesetzt. Um sie wird seit einiger Zeit der Mythos aufgebaut, dass sie in Aussehen und Auftreten ihrer Großmutter Indira Gandhi – der früheren beliebten Premierministerin – ähnele. Doch Priyanka, Mutter zweier Kinder und mit einem Geschäftsmann verheiratet, dem wegen Korruptionsvorwürfen mehrere Gerichtsverfahren am Hals hängen, scheute bisher weitgehend eine politische Betätigung. Obwohl noch schnell zum Generalsekretär der Partei ernannt, konnten ihr Ruf und Charisma das Blatt nicht wenden.
Arroganz, Rechthaberei und letztendlich politische Unerfahrenheit von Rahul Gandhi wirkten sich auch negativ bei der Herstellung eines Bündnisses aller Oppositionsparteien gegen die hindunationalistische Regierungspartei aus. Als einzige landesweit agierende Partei kam der Kongresspartei die Rolle zu, die von allen gewünschte „Große Allianz“, die eine Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten in jedem Wahlbezirk bedeutet hätte, herzustellen. Nach dem in Indien geltenden Mehrheitswahlrecht wäre das die einzige Chance gewesen, so den Kandidaten der Regierungspartei wirksam entgegenzutreten. Doch das funktionierte nur teilweise, regionale Interessen und die fehlende Bereitschaft der Kongresspartei zu Kompromissen verhinderten ein allindisches oppositionelles Bündnis.
Den Niedergang der einst so starken Kongresspartei hält treffend die politische Kommentatorin Neerja Chowdhury in der Times of India fest: „Die Kongresspartei hat gezeigt, dass sie sich mit Modis BJP nicht messen kann, weder in ihrer Führung, noch in ihrer Organisation, Planung, Strategie oder notwendiger harter Arbeit […].“
Nur wenige Tage nach der Wahl kam es in der Parteiführung zum Eklat, als der offensichtlich überforderte und zu Dramatik neigende Parteipräsident Rahul Gandhi seinen Rücktritt erklärte. Doch der Rest der Gandhi-Familie und der sich um sie scharende Kreis akzeptierten das nicht, sie beauftragten Rahul sogar, die notwendige Erneuerung der Partei vorzunehmen. Eine Farce, die nur durch die Machtinteressen der sich an der Spitze der Kongresspartei befindlichen Dynastien erklären lässt. Die übergroße Mehrheit der durch die erneute massive Wahlniederlage enttäuschten Parteimitglieder fordert hingegen eine echte Erneuerung an der Spitze der Partei.
Die BJP ist mittlerweile eifrig bemüht, die für sie anhaltende günstige Stimmung zum Ausbau ihrer Machtstrukturen auszunutzen. So sollen die politischen Verhältnisse in noch nicht von ihr regierten Unionsstaaten zu ihren Gunsten geändert werden. Beispielsweise wechseln in Westbengalen, Madhya Pradesch und Karnataka Landtagsabgeordnete aus den dort regierenden Regionalparteien in die BJP über – was zu Neuwahlen führen könnte. Auffallenderweise herrschte während des Wahlkampfes relative Ruhe zum Thema Hinduisierung der Gesellschaft. Doch die Berufung des bisherigen BJP-Präsidenten, Amit Shah, zum neuen Innenminister des Landes vertieft die Sorge, dass Ideologie und Politik des Hindunationalismus mit seiner Ausgrenzung von Minderheiten und Diffamierung Andersdenkender wieder aktiviert wird. Shah war maßgeblich an der Schaffung der BJP-Machtstrukturen beteiligt, er ist auch einer der aktivsten Befürworter hindunationalistischen Gedankenguts.
Die neuen politischen Verhältnisse und die vor dem Land stehenden drängenden Probleme im Blick mahnt die Times of India: „Eine große Machtfülle muss mit großer Verantwortung verbunden werden. Die indische Gesellschaft ist dynamisch und das Wählervotum sollte niemals als gesichert betrachtet werden.“ Wird und kann der erfahrene Politiker Narendra Modi solche Ratschläge ernst nehmen?
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