22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Expertokratie statt Wissenschaft

von Christa Schaffmann

Christa Schaffmann: Vor knapp 38 Jahren definierte die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) in ihrer Gründungsphase auf einer Tagung in Berlin ihr Selbstverständnis. Wie sieht der Vergleich zwischen damals und heute aus?
Werner Ruf: Wir haben damals formuliert: „Kritische Friedensforscher/innen lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. Sie begreifen sich als wissenschaftliche Parteigänger von Menschen, die durch die ungleiche Verteilung sozialer und ökonomischer Lebenschancen in und zwischen Nationen, das heißt durch strukturelle Gewalt, betroffen sind.“

Hieß was genau?
Wir stellten uns an die Seite von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten.

Viele würden darin soziales Engagement sehen, aber nicht unbedingt die Aufgabe von Friedensforschung.
Wird Friedensforschung konsequent gedacht, kann sie sich nicht auf Kriege in Form zwischenstaatlicher bewaffneter Auseinandersetzung beschränken, sondern sie muss konsequenterweise die Frage nach dem Ursprung und den Ursachen von Gewalt stellen. Forschungsgegenstand werden dann alle Formen struktureller Gewalt sein (Johan Galtung), ebenso – als Gegenmodell zum gewaltförmigen Widerstand – Formen der Gewaltfreiheit, wie sie etwa von Gandhi praktiziert wurden. Bis gegen Ende der 1980er Jahre verstanden sich weite Teile der Friedensforschung als wissenschaftlicher Arm der Friedensbewegung und sahen ihre Aufgabe auch darin, die Anliegen der Friedensbewegung durch wissenschaftliche Expertise zu unterfüttern. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler engagierten sich selbst in der Friedensbewegung. Die AFK und ihr Vorstand bezogen regelmäßig öffentlich politische Positionen und gaben Erklärungen zu aktuellen Konflikten ab. Ab Ende der 1980er Jahre veränderte sich das.

Gab es einen Bruch und – wenn ja – wodurch? Oder handelte es sich um einen schleichenden Prozess?
Eine Vielzahl von Faktoren veränderte die politischen Rahmenbedingungen der Friedensforschung in Deutschland. Während ihrer Konstituierung hatte sich die Friedensforschung eine eigene und selbstverwaltete Finanzierung durch die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) erkämpft, die vom Bund und den Ländern alimentiert wurde. Der Ausstieg der Länder Bayern und Baden-Württemberg führte schließlich zur Übertragung der Förderung an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), deren Kriterien für die Förderung von Projekten auf schrumpfender finanzieller Basis hinfort gültig waren. Damit war die Selbstbestimmung der Förderung innerhalb der Disziplin beendet.

Ende der 1980er Jahre wurde auch das Ende der DDR eingeläutet. Spielte das eine Rolle?
Die politischen Kräfteverhältnisse veränderten sich, markiert durch die unter konservativen und neoliberalen Vorzeichen vollzogene deutsche Vereinigung. Diese ideologische Wende hatte sich bereits angekündigt in der Regierungsübernahme durch die CDU, sie kulminierte in Wandlungsprozessen innerhalb der SPD, die gemeinsam mit dem grünen Außenminister Fischer Deutschland 1999 in seinen ersten und dazu noch völkerrechtswidrigen Krieg nach 1945 führte.

Wie reagierten die Sozialwissenschaften?
Der Mainstream der Sozialwissenschaften wandte sich etwa zeitgleich dem Paradigma des Konstruktivismus zu, indem er Wissenschaft als wertfrei versteht. Die „Expertokratie“ beansprucht damit zugleich gesellschaftliche Anerkennung und die Kompetenz der Verwissenschaftlichung wie der Steuerbarkeit von Politik. Wissenschaftliche Politikberatung wird standespolitische Aufgabe und verleiht den Wissenschaftlern Anerkennung als „Experten“. Die Wissenschaft entdeckt den Markt. Ein besonderes strukturelles Problem für die Friedensforschung war und ist, dass sie sich nur an wenigen Universitäten in Form von anerkannten Studiengängen etablieren konnte, womit noch nichts über die Inhalte der Curricula gesagt ist!

Besiegelte das das Ende der Friedensforschung oder zumindest ihre Verdrängung in die Bedeutungslosigkeit?
Friedensforschung existierte an den Universitäten vor allem in der Rechtsform der „An-Institute“. Diese sind an Universitäten angegliedert, erhalten aber keine Mittel aus deren Etat, müssen also für ihre Finanzierung selbst sorgen. Der einzige Weg hierzu sind die „Drittmittel“: Zeitlich befristete und in ihrer Zielsetzung vom Auftraggeber formulierte Forschungsprojekte werden bei privaten, meist aber staatlichen Einrichtungen eingeworben. Hierfür kommen die klassischen Ministerien, die mit Fragen der Konfliktbearbeitung befasst sind, in Frage: Das Bundesministerium für Verteidigung, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. „Der Markt“ – und dieser ist überdies eng und von der Konkurrenz der Auftragnehmer geprägt – bestimmt Art und Inhalt der wissenschaftlichen Produktion.

Was bedeutete das für den Zusammenhalt von Friedensforschern und Friedensbewegten?
Unter dem Einfluss dieser Strukturveränderung und der Drittmittelgeber entstand ein Teufelskreis, der bis heute nicht nur Wissenschaft in den Dienst der Herrschenden stellt, sondern auch das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prägt.
Die erwähnten Veränderungen zielten auf eine „Verwissenschaftlichung“ der Friedensforschung. Diese ging mit der Trennung der Friedensforschung von der Friedensbewegung einher: Die normativen, oft emotionalen Antriebe der friedensbewegten Menschen erreichten die sich zunehmend akademisch profilierende wissenschaftliche Community der Friedensforscherinnen und Friedensforscher nicht mehr.

Betraf das nur die Friedensforschung oder ging der Trend darüber hinaus?
Die hier skizzierte Entwicklung der Friedensforschung hat durchaus paradigmatischen Charakter und gilt cum grano salis zumindest auch für die Sozial- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen: Die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien an den Hochschulen, in der Forschung und erst recht an den An-Instituten hat die Wissenschaft nachhaltig verändert, ihre – auch kritische – Unabhängigkeit in Frage gestellt. Heute gewinnt Wissenschaft Ansehen, wenn sie am Markt erfolgreich ist, den jene beherrschen, die über finanzielle Mittel zur Erstellung von Expertisen verfügen. Das neoliberale Prinzip des Marktes als Maßstab von Erfolg kulminiert schließlich in der Verleihung des Etiketts „Exzellenzforschung“.

Bei dem interdisziplinären Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie, der im Untertitel „Die Intellektuellen als Stützen der Gesellschaft?“ anspricht, werden Sie sowohl über die Verantwortung der Friedensforschung als auch über ihre Vereinnahmung sprechen.
Ich werde versuchen zu beschreiben, wie verantwortliches Handeln unter diesen Bedingungen trotzdem gelingen kann. Doch davor steht die Analyse der Lage, der wir uns zunächst bewusst sein müssen. Scheinbar unbemerkt wird heutzutage ein neuer Sozialisationstyp des Wissenschaftlers produziert, der sich und seine Qualität selbst am Erreichten misst: zum Beispiel am Sitz in Kommissionen und Beratungsgremien, an der Zahl der Drittmittelprojekte und der dort – auf Zeit! – beschäftigten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. So wird die Wissenschaft, die vorgibt unpolitisch zu sein, in höchstem Maße politisch: Sie betreibt nach wie vor Sinnproduktion – aber nicht mehr im Sinne von Herrschaftskritik, sondern als Legitimation jener Strukturen, die mindestens zu kritisieren und zu bekämpfen sie einmal angetreten war. Die Geschichte der Kritischen Friedensforschung ist hier ein durchaus paradigmatisches Beispiel. Das neue Verständnis von wissenschaftlicher Leistung passt sich in die hegemonial vorgegebenen politischen und ökonomischen Strukturen ein. Wissenschaftliche Auseinandersetzung verlagert sich von inhaltlicher, methodischer, auf Erkenntnisgewinn abzielender diskursiver Debatte zur Konkurrenz um Mittel, Anerkennung und Anteile am Markt.

neues deutschland, 07.03.2019; Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Werner Ruf ist Konflikt- und Friedensforscher, war unter anderem Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). An der Uni Kassel lehrte er Politikwissenschaften; heute ist er unter anderem Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit Werner Ruf sprach für nd Christa Schaffmann.