22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Die offene Gesellschaft

von Christoph Körner

Stefan Brunnhuber, habilitierter Psychiater und ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik für Integrative Psychiatrie Sachsen, promovierter Ökonom, Professor für Psychologie und Nachhaltigkeit an der Hochschule Mittweida, Senator der Europäischen Akademie der Wissenschaft und Mitglied im Club of Rome will mit seinem neuesten Buch eine gesellschaftliche Orientierungshilfe geben, wie wir als Menschen im 21. Jahrhundert zusammen leben wollen und können. Er weiß, dass sein Entwurf im Wettbewerb mit anderen Formen des Zusammenlebens steht, etwa autokratischen Systemen, Neonationalismus oder auch andere Formen von Demokratien, in denen Stabilität wichtiger ist als Partizipation. Ihm geht es im Modell der Offenen Gesellschaft immer um das richtige Verhältnis von Kritik, Freiheit und Ordnung. Er stützt sich dabei auf Karl Poppers „Offene Gesellschaft und ihre Feinde“, dessen Gedanken er für unser Jahrhundert gesellschaftlich umsetzen will.
Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist, dass wir heute im Zeitalter des „Anthropozän leben, in welchem unser Denken in einen neuen Aggregationszustand gerät“, dem viele Freunde einer geschlossenen Gesellschaft entgegenstehen. In einem weiteren Kapitel beschreibt er den Übergang, den wir als Einzelne und als Gesellschaft schließlich gehen müssen, wenn wir in offenen gesellschaftlichen Verhältnissen ankommen wollen. Anschließend versucht der Autor die „positiven und inhaltlich ausgewiesenen Aspekte einer Offenen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ zu klären, wobei er auch die Grenzen und Schwächen einer Offenen Gesellschaft auflistet. Dennoch geht es ihm vor allem um eine Transformation hin zu offenen Verhältnissen, die einen fehlerfreundlichen Umgang mit allen und zwischen allen Menschen ermöglicht. Dabei ist die richtige Fragestellung wichtiger als die schnelle Antwort, denn es geht um die „Botschaft aus der Zukunft, etwa nach dem Motto ‚So wollen wir zusammenleben‘“, denn „an den Grenzen werden die Bedingungen der Offenheit erst sichtbar. In Bezug auf die inneren Grenzen wird es um die Frage gehen, wie wir mit Fehlern im Denken und Begrenzungen unseres Wahrnehmens umgehen“, die bei allen Mitgliedern der Offenen Gesellschaft eine „reziproke Toleranz“ verlangen.
Dennoch ist die Offene Gesellschaft nicht neutral. Das wird deutlich an Brunnhubers 22 Merkmalen einer Offenen Gesellschaft, in denen er unter anderem in Bezug auf Religion schreibt: „Wie viel Religion eine Offene Gesellschaft verträgt, hängt davon ab, wie viel Offenheit eine Religion verträgt. Werte, Religion und kulturelle Praktiken sind nur so weit offen, wie sie tolerant sind, und nur so weit falsch, wie sie unkritisch sind.“ Hier muss sich auch die jüdische und christliche Religion erinnern lassen, dass sie von ihrem Selbstverständnis stets offen sein muss, weil Gott sich selbst als der vorstellt: „Ich werde sein, der ich sein werde“ (Exodus 3,14). So ist für den Rezensenten wahre offene Religion eine der Voraussetzungen der Offenen Gesellschaft, weil die Offene Gesellschaft diese „nicht selbst begründen kann“.
So ist dieses Buch ein großer gesellschaftlicher Entwurf darüber, wie wir leben wollen und fordert wichtige Diskurse heraus, weil Detailfragen noch geklärt werden müssen wie etwa: Bedingen sich nicht „individuelle Freiheit“ und Gerechtigkeit gegenseitig statt sie als Gegensätze zu beschreiben? Denn individuelle Freiheit kann missbraucht werden, wenn Gerechtigkeitsordnungen gesellschaftlich nicht da sind. Wenn man aber etwas von „missbrauchter Freiheit“ weiß, kann man nicht mehr sagen: „Konkurrenz ist wichtiger als Konsens.“ Auch Konsensentscheidungen können im gesellschaftlichen Diskurs Freiheitsentscheidungen sein.
Letztlich geht es um das „kritische Bewusstsein“ aller gesellschaftlichen Mitspieler. Um dies zu erreichen, ist dieses Buch eine vorzügliche Denk- und Handlungsanweisung, dem man eine große Leserschaft wünscht, wohlwissend, dass Bewusstseinsbildung die schwierigste Aufgabe für uns Menschen ist.

Stefan Brunnhuber: Die Offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert, oekom verlag, München 2019, 176 Seiten, 20,00 Euro.