22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Macho mit Matrone, rasende Drehwürmer und Schauspiel-Remmidemmi …

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Von Zeit zu Zeit sieht man die Alte gern: Charlys Tante; ein Evergreen, ein Hit seit 127 Jahren und Inbegriff der Travestie-Klamotte. „Charley’s Aunt“ von Brandon Thomas (1850–1914) wurde in mehr als hundert Sprachen übersetzt. Schon 1915 entstand ein Stummfilm mit Oliver Hardy, zahlreiche Verfilmungen und Adaptionen folgten (mit Heinz Rühmann, mit Peter Alexander); es gibt ein Broadway-Musical und eine Operette (München 2014). Und jetzt tobt die tolle Tante im Berliner Schlossparktheater, um – gutmütig, wie sie ist – ein gefährdetes junges Liebesglück ins Happyend zu hieven.
Die Sache ist so: Zwei Mädels benötigen, um ihre Liebhaber Jack und Charly zu treffen, einen Anstands-Wauwau. Da passt es, dass Charlys steinreiche Tante Donna Lucia d’Alvadorez aus Brasilien zu Besuch kommt. Doch die verspätet sich. So muss als Aufseher(in) Babbs einspringen (Markus Majowski), ein Freund der beiden Herren (Johannes Hallervorden, Daniel Wobetzky). Flugs wird Babbs fürs Rendezvous des verliebten Quartetts umdekoriert zur Tante. Das Chaos aus Missverständnissen, Verstellung, Lügen (als die echte Donna auftaucht) nimmt seinen Lauf.
Weil die Ära der Königin Victoria weit zurück liegt, wirkt das mit der Tugendwächterin ziemlich aus der Zeit gefallen. Deshalb dachte sich der so pfiffige wie erfolgreiche Komödienschreiber René Heinersdorff was Neues aus: Die beiden Mädels Aishe und Sema (Kim Zarah Langner, Alice Zikeli) sind flott und schick integrierte, selbstbewusst intelligente Töchter mit türkischem Migrationshintergrund, die dem streng auf Sitte, Tradition, Ehre pochenden Papa Spittigül (Aykut Kayacik) sowohl das Schäferstündchen als auch die Heiratserlaubnis abtrotzen wollen. Und da hat Lucia ihren Einsatz als freilich höchst nachlässige Aufpasserin. Womit Heinersdorff, der auch Regie führt, ein klasse Coup gelang: Seine Stückfassung hat nun gleich zwei Hauptrollen: Die weltberühmte falsche Tante und neuerdings dazu den echten deutsch-türkischen Haudegen Spittigül; ein stämmiges, wohlbeleibtes und heißblütiges, präzise und genau krachendes Doppel. Der Macho und die Matrone, die schmeißen den Komödienstadel. Wow!
Zum fidelen Schluss hat sich der verwitwete Herr Spittigül unsterblich in die durchaus etwas herbe Tante verknallt. Das Sahnehäubchen aufs Allotria wäre, er hätte den Babbs, wieder zurückverwandelt in den Kerl, der er ja von Natur aus ist, geheiratet. Eine Pointe wie in „Manche mögen’s heiß“; Motto: Macht nix, ich nehm dich auch als Mann. Nobody is perfect. Hat man sich nicht getraut im ansonsten lustig dreinschlagenden Schlosspark, das freilich artig bedacht bleibt, die Travestie und Tunterei nicht allzu weit in die Höhe zu treiben. Da wäre noch Lustigkeits-Luft nach oben …

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Anno 1874 komponierte der Russe Modest Mussorgski sein Klavierstück „Bilder einer Ausstellung”; zehn Bilder aus Tönen, die ein imaginärer Galeriebesucher betrachtet. 1993 gründete Vartan Bassil in Berliner Hinterhöfen seine inzwischen berühmte, im letzten Jahrzehnt mehr als eine Million Zuschauer in aller Welt begeisternde und vielfach ausgezeichnete Breakdance-Crew Flying Steps, die klassische Musik mit Modern Dance und vor allem mit Breakdance einzigartig in eins bringt. Zuletzt hat sie es mit J.S. Bach getan. Jetzt versetzt sie Mussorgskis traumhafte Erzählung ins Optische auf ein eigens installiertes Theater im Hamburger Bahnhof, dem Ort für Gegenwartskunst der Neuen Nationalgalerie Berlin.
Das historische Musikstück wurde von dem Komponistenduo Vivan und Ketan Bhatti „kreativ überschrieben“. Eigentlich eine völlige Neukomposition für Kammerorchester (Berlin Music Ensemble), das live aufspielt – freilich mit kühnem Blick auf akustische Beats und Rhythmen für den Tanz, der hier Elemente des Urban und Contemporary Dance verrückt verquickt (Choreographien: Vartan Bassil). Das Bühnenbild prägt die fantastischen Monumentalfiguren vom brasilianischen Künstlerduo „Osgemos“, dazu allerhand Lichtgefunkel und Nebel.
Die einem großen Kindergeburtstag gleichende Show ist nicht direkt eine für Freunde der Neuen Musik, obgleich die Mussorgski-Adaption der Berliner Bhatti-Brüder originell ist. Vielmehr gilt diese Fliegende-Bilder-Attraktion mit – entfernt – Mussorgski-Musik zuallererst als ein Event für die Breakdancer-Gemeinde. Die Jungs in den kunterbunten Trainingsanzügen sind einfach umwerfend artistisch; aber eben nicht neunzig Minuten abendfüllend.
Deshalb zwischendurch als Füllsel die Osgemos-Puppen aus Sao Paulo; zwei Abkömmlinge der US-Sprayer-Szene, die, aufgestiegen in höhere Sphären der Kunst, nun nicht mehr wie ihre Adepten hierzulande die Umwelt belasten. Die Zwillinge bebildern mit ihren pausbäckigen Harmlos-Riesenpuppen und naiv kindlichen, auch kitschig-kunstgewerblichen XXL-Bastelarbeiten die Tanzpausen. Doch Flying Steps, diese irrwitzigen menschlichen Rotoren am Boden wie halb in der Luft, die sind der umwerfende Hingucker in „Flying Pictures“. Artistik wie im Rausch!

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Rainald Goetz war der junge Mann, der einst während seiner Lesung beim Klagenfurter Literaturwettbewerb sich die Stirn ritzte. Beglaubigung des Geschriebenen durchs eigene Blut. Herzblut, wenn auch aus der Stirn gezogen. Sein Dramentriptychon „Krieg“ modert seit drei Jahrzenten im Schützengraben der Bühnen. Vor einiger Zeit warf es Robert Borgmann, 1980 in Erfurt geboren, wie im Rausch auf die Bretter des Berliner Ensembles. Um es gleich zu sagen, Brecht, samt seiner Dramaturgen-Armanda, hätte einst gedonnert: Raus mit den Redundanzen aus diesem Dreiteiler „Heiliger Krieg“, „Schlachten“, „Kolik“! Radikal Kürzen! Auch wenn Postdramatisches und Postironisches zu Brechts Zeiten unbekannt waren, Goetzens massiver Zynismus und Radikal-Humor wären dem Brecht-BE und auch danach mindestens suspekt gewesen; kleinbürgerliches Wehweh.
Tempi passati. Längst ist am Bertolt-Brecht-Platz das meiste ganz anders. Zwar steht noch immer Weltveränderung an, doch Reden über Weltverbesserung ist auch genehm. Aber solch eine unkontrollierte Wortflut wie bei Rainald Goetz ist auch heutzutage des Guten einigermaßen zu viel. Sie schwafelt – freilich mit beachtlicher Wortgewalt – vom Elend des Einzelnen in seiner physischen Hinfälligkeit oder Einsamkeit, seiner menschlichen und philosophischen Verlorenheit. Ach, Goetz!
Dieser frühzeitig mit Lorbeer überschüttete Robert Borgmann ist ein scharfer Denker, ein weit- und tiefschweifender Philosoph, ein phänomenaler Phantast und – ja das unbedingt – ein alles Menschliche fein berührender und liebender Mensch. Als Regisseur ist er natürlich auf Effekte erpicht; als Künstler selbstverliebt und egomanisch. Prima Mischung!
Jetzt also nimmt er sich den alten Goetz vor; kennt ihn ja bloß aus der Überlieferung. Denn als der seine anspielungsreichen (einst provokanten) Wortorgien als schillernd angesagter Popliterat verfasste, war der genialische Bursche aus Thüringen gerade mal im Kindergarten. Na und? – Nun also erstmals (!) und in viereinhalb Stunden Rainald Goetzens Wort-Tsunami „Krieg“ komplett auf der Bühne. Derartiges hielt alle Welt bislang für unzumutbar, erst recht für ein zahlendes Publikum, das sich prompt zum Teil verflüchtigte nach der Pause. Denn wahrlich, das Enervierende ist beträchtlich. Die monumentale Erregtheit vollgestopft mit den vermeintlich weltenstürzenden Aggressionen eines späten Achtundsechzigers. Was für ein Mischmasch aus Gedöns, Gejammer, Gemecker, Kitsch, Philosophie, Lebensernst, Drama, Tragödie. Doch summt da untergründig auch ein Mitfühlen mit Geschundenen, Alles-Wollenden, Ins-Leere-Liebenden, mit Verlierern, Verlassenen, Unglücklichen – ach!
Anfangs tobt Borgmann sich noch wie wild aus im Clownesken, in kitschigster Kleinbürgerverzweiflung, depressivem Künstler-Lamento, Kunstbeschwörungen. Frechste Verstiegenheiten, verquaster Größenwahn, klare Herzenskälte sowie Trallala aus Gier, Leere, Frust, Klamauk. Artistisches Remmidemmi im Kollektiv mit dadaistischen Revue-Nummern. Spaß beim Gucken. Dazu gelegentliches Kratzen am Schädel.
Dann sorgt der Regisseur, es folgen die eher solistisch geprägten beiden Teile zwei und drei, für Konzentration sowie ein gehöriges Quantum heiliger Ernst. Also zunehmend Ruhe. Autors Worte gerahmt, nicht ganz ohne spitzbübisches Grinsen.
Am Schluss verwundertes, bewunderndes Kopfwackeln im Parkett: Was für ein wahnsinniges Ensemble tobt, tourt, denkt und spielt sich da ran an diesen fragwürdigen Goetz und wieder weg von ihm und – für Momente – hin zu sich selbst und vielleicht sogar gleich ganz raus ins Nirwana. Was für ein süß-saures Seltsamkeits-Bonbon für Freaks des Grotesken, des verspielt Irren, des messerscharf Rationalen auf diesem Boulevard der Exzentriker. Bis hin zu dem bösen Satz „Der aufrechte Gang ist eine Lüge.“ Stimmt’s?