22. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2019

Fiktive Lesereise mit Goethe und Schiller

von Manfred Orlick

2014 … der Buchmarkt steckt in argen Absatzschwierigkeiten. Selbst die Klassiker verkaufen sich mehr schlecht als recht. „Werther“ und „Faust“ sind Ladenhüter geworden. Da hat der Verleger Cotta eine verkaufsfördernde Idee und schickt die gealterten Herren Goethe und Schiller auf eine Lesereise durch den Harz. Zunächst hält der ehemalige Geheimrat überhaupt nichts von dieser Reise; doch da sein Haus am Frauenplan gerade umgebaut und saniert wird (Dreifachverglasung, Solarmodule, Fußbodenheizung), willigt er schließlich ein.
Christian Tielmann, der sich bisher als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen gemacht hat, kennt sich aus mit den Freuden und Ärgernissen einer Lesereise. Irgendwann stellte er sich die Frage: Wie würden Goethe und Schiller heute solche Lesereisen erleben? Als Antwort schickte er die beiden Klassiker auf ein abenteuerliches und äußerst humorvolles Unternehmen.
Die Reise steht unter dem Motto „Klassiker zum Anfassen“ – schließlich ist 2014 Volksnähe gefragt. Die erste Station ist Göttingen, wo die Dichterfürsten vor Schülern im Wappensaal des Rathauses auftreten. Handykameras werden gezückt, schwatzende Eltern, lautstarke Klettverschlüsse, Pipi-Müssen der Mädchen … Goethe ist schon nach zehn Minuten genervt und schweißgebadet. Es war die schlimmste Lesung seines Lebens. Schiller kommt dagegen bei der Jugend besser an. Am Ende kann er fünf Exemplare seiner „Räuber“ signieren – allerdings in entwürdigend billigen gelben Heftchen. Sogar auf einem T-Shirt und einem Gipsarm darf er sich verewigen. Im Vergleich zu seinem Kollegen Goethe, der nicht ein Buch losgeworden ist, entpuppt sich Schiller hier als eine wahre Rampensau.
Auch auf den nächsten Stationen Northeim, Osterode, Clausthal-Zellerfeld und Goslar ergeht es ihnen nicht besser. Krönender Abschluss soll eine komplette Lesung des „Faust“ auf dem Brocken werden. Die Massen strömen auf „Goethes Gipfel“, zu Fuß oder mit der Schmalspurbahn. Neben dem Fernsehen sind auch die Ministerpräsidenten von Thüringen und Niedersachsen anwesend – schließlich stehen Landtagswahlen ins Haus. Das Brocken-Open-Air ist auf dem besten Weg, ein grandioser Erfolg zu werden, da ereilt Goethe in der Pause die Nachricht, Schiller sei tödlich verunglückt. Nichts mehr mit der Unsterblichkeit. Goethe will nur noch zurück nach Weimar, doch sein Haus am Frauenplan ist leer … Christiane ist verschwunden … Nur einen Brief „Mir reicht’s“ hat sie hinterlassen.
Das „Goethe-Schiller-Desaster“ ist gespickt mit grandiosen Einfällen und Überraschungen – von verspäteten ICEs, überbuchten Hotels, besserwissenden Oberlehrern, nervenden E-Mails von Eckermann, Schmierenjournalisten oder von den planschenden Klassikern im Hotel-Pool. Mitunter hat der Leser nicht den Eindruck von einer fiktiven Lesereise, vielmehr glaubt er, mit Wolfgang und Friedrich leibhaftig unterwegs zu sein. Die weibliche Ergänzung zu den beiden reisenden Dichtern ist die attraktive Buchhändlerin Sabrina Jacqueline Huggelmann, die ihnen mit ihrer vollen Pracht gehörig den Kopf verdreht. Doch am Ende gibt es für diese literarische Ochsentour nicht einmal ein Honorar … kein Wunder, die Schulen im Lande sind pleite. Köstlich! Sicher hat der Autor eigene Erfahrungen verarbeitet.

Christian Tielmann: „Unsterblichkeit ist auch keine Lösung“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2019, 224 Seiten, 14,00 Euro.