22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Ein Epos menschlichen Leidens

von Hajo Jasper

Hier liegen Leningrader.
Hier liegen Bürger – Männer, Frauen und Kinder.
Neben ihnen Soldaten der Roten Armee.
Mit ihrem Leben.
Verteidigten sie Dich, Leningrad.
Die Wiege der Revolution.
Nicht alle ihre edlen Namen können wir hier nennen.
So viele sind es unter dem ewigen Schutz von Granit.
Aber wisse, der du diese Steine betrachtest.
Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.

Mein erster und einziger Besuch des Piskarjow-Friedhofes im damaligen Leningrad ist mir trotz vieler späterer eindrücklicher Erlebnisse und Begegnungen noch immer erinnerlich: Feierlich-getragene Musik über all den Grabstätten des weitläufigen Areals in der Stadt an der Newa; Atmosphäre einer Einkehr, die den Besucher der Anlage umgehend empfinden lässt, dass es an diesem Ort nicht nur um das allgemeine Gedenken Verstorbener geht, wie das sonst Friedhöfe gemeinhin auslösen. Von ihrem Podest aus breitet die bronzene „Mutter Heimat“ ihre Arme über die Gräber der 470.000 von insgesamt rund einer Million Zivilisten aus, die bei der Verteidigung Leningrads, viel mehr noch aber durch den von der Blockade ausgelösten Hunger und die Kälte binnen jener 900 Tage quasi vernichtet wurden, die diese Einschnürung der Stadt andauerte.
Zehn Wochen nach dem Überfall der Naziwehrmacht auf die Sowjetunion hatten deutsche und finnische Truppen die Stadt eingeschlossen. Ihre Aufgabe ist in einer geheimen Direktive vom 22. September 1941 nachlesbar: „Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen. […] Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. […] Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleichzumachen. Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. […] Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht […] unsererseits nicht“ (Hervorhebung d. Verf.).
So klingt sie, die Sprache eiskalter Kriegsverbrecher und Massenmörder deutscher Zunge.
Was die Leningrader in den Monaten der Belagerung in ihrer Heimatstadt zu durchleben hatten, übersteigt das Vorstellungsvermögen von uns Nachgeborenen und macht demütig. Indes unterliegt es, wie alles Geschehene, je weiter dies zur Vergangenheit geronnen ist, der Gefahr des Vergessens durch die Nachfahren. Auch deshalb ist es ein unschätzbares Verdienst der sowjetrussischen Schriftsteller Daniil Granin, zeitweise selbst unter den Verteidigern der Stadt, und Ales Adamowitsch , durch die jahrelange Sammlung der Erinnerungen von Zeitzeugen das grausame Geschehen in sehr konkreter und – so gut das geht – nachvollziehbarer Erinnerung zu halten, auf dass sich realisiere, was die letzte Worte auf der Gedenktafel des Friedhofes lauten: „Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.“
Das „Blockadebuch“, das nun dank des Aufbau-Verlages, vorliegt, ist nicht dessen erste gedruckte und verfügbare Fassung. Zu sowjetischen Zeiten verfügte die Zensur selbst in diesem Falle, was dem Leser mitgeteilt beziehungsweise zugemutet werden durfte und was nicht. Die so seinerzeit entstandenen Fehlstellen sind getilgt und sie vervollständigen das Bild eines unvorstellbaren Grauens, künden dennoch zugleich auch vom Mut zum Widerstehen. „Die Blockade war ein Epos menschlichen Leidens“, formuliert Ingo Schulze in seinem Vorwort des Buches. „Das war nicht die Geschichte von neunhundert Tagen Heldentaten, sondern von neunhundert Tagen unerträglicher Qualen.“ Schon weil sich ähnliche Grauen, etwa in Nahost, auch heute noch wiederholen, ist dieses Buch von beklemmender Aktualität.
„Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen“: Das eingangs zitierte Gedicht auf der übermannshohen Granittafel am Mahnmal des Piskarjow-Friedhofes stammt von Olga Bergholz. Sie gehörte zu denen, die das Massaker der Blockade überlebten.

Ales Adamowitsch / Daniil Granin: Blockadebuch. Leningrad 1941–1944, Aufbau-Verlag, Berlin 2018, 703 Seiten, 36,00 Euro.