22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal westliche Vögeleien und östliches Stasi-LSD…

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Wenn Besserverdienende im Berliner Villenbezirk Westend im außerehelichen Beziehungssumpf versacken oder bei edlen Getränken lamentieren über einst angebetete Ideale, die vom Verlauf der Zeiten niedergemäht wurden, dann heißt das noch lange nicht, dass mit diesem privaten Ungemach zugleich der Untergang des Abendlandes bevorsteht – eben das Ende des Westens.
Doch genau das will uns Moritz Rinke in seinem zehnten Bühnenstück namens „Westend“ weismachen. Sein vorab in den Gazetten fleißig erklärter Anspruch ist ein verwegen hoher: Nämlich mit dieser dezent schmerzlich und sogar böse grundierten Komödie ein großformatiges Sittenbild vornehm cooler Wohlstandsverwahrloster vor unser aller Nasen, Augen, Herzen zu hängen.
Um es gleich zu sagen, da baumelt es bloß. Und bleibt beim wohlfeilen Wundenlecken eher leicht beschädigter Seeelchen hinterm gut mit Geld gepolsterten Windschutz, wo die Stürme des Lebens keine allzu großen Schäden mehr anrichten. Dabei gleich das alsbaldige Ende unserer schönsten aller Welten im Westen auszurufen, wäre vermessen. Für ein solch wuchtiges Warnbild hätte Rinke, der uns ansonsten beglückt als sarkastisch-liebevoller Menschenbeobachter, dramatisch ganz anders aufdrehen müssen.
Stattdessen gibts eine maßvoll komische, immerhin mit witzigen Sotissen garnierte, letztlich aber kleinkarierte Milieuskizze. Abgefüllt mit hinlänglich bekannter sexueller Libertinage, mit dem beruflichen Geldregen eines Schönheitschirurgen (Ulrich Matthes), der Karriere-Panne einer Sopranistin, die aus dem Haydn-Oratorium „Die Schöpfung“ gekippt wird und witzigerweise bloß noch das finale „Amen“ zu säuseln hat (Anja Schneider) sowie mit den Traumata eines in Afghanistan fehlerhaft operierenden Arztes ohne Grenzen (Paul Grill) und, auch das darf nicht fehlen, mit den Psychonöten eines pubertär lüsternen Ehescheidungsopfers (Linn Reusse). Schließlich schneit in die Clique der hinterrücks heftig durcheinander vögelnden Westendler noch ein exaltiertes Paar (Birgit Unterweger, Andreas Pietschmann) und sorgt für eine gewisse exotisch-bohemehafte Belebung des sich gemach dahin schlängelnden Abends.
Ehefrust, Liebesverlust, neu entflammende Fleischeslust, Wiederbegehren aufs Alterprobte – also das übliche Libido-Chaos. Macht aber hier noch längst kein welthaltiges Menschenpanorama, so sehr Rinke auch – Schlagwort „Narzissmus als Staatsform“ – auf Botho Strauß schaut. Oder Yasmina Reza. Die angepeilte Breitwand-Gesellschaftskomödie verreckt auf einem schmalen Boulevard, oder besser: in den holprigen Gassen simpler Selbstverliebtheiten, gängiger Egoismen und Psychosen.
Das Westberliner Personal bleibt kleben im papiernen Konstrukt, das „global“ sein will, wenn „Afghanistan“ als Stichwort fällt. Und das noch dazu eitel aufgeladen ist mit Klassik. Nämlich mit Goethes just vor zwei Jahrhunderten erschienenem Liebes- und Ehebruchs-Roman „Die Wahlverwandtschaften“, in der das gesellschaftlich Sanktionierte mit den Trieben provokant kollidiert.
Die Schauspieler bemühen sich heftig, aus der öden Papierkleberei herauszukommen und wenigstens ein bisschen abzuheben ins Weltläufige. Vergebliche Liebesmüh. Auch, weil der (immerhin erfahrene) Regisseur Stephan Kimmig – ob aus Ehrfurcht oder Lustlosigkeit – dem Text nichts Höheres oder Tieferes abgewinnt, sondern szenischen Leerlauf verwaltet im weiß angepinselten Sperrholzverschlag, in den teure Handwerker dereinst Villen-Prunk zaubern sollen. Eigentlich steckt im Bühnenbild von Katja Hess die Vorlage für eine saftige Satire: Gernegroß in der kleinen Pappschachtel will einen auf ganz großen Stuck-Salon machen.
Warum bloß hat die verklemmte Regie aus der großspurigen Vorlage nicht verdammt noch mal einfach eine ätzende Farce gemacht à la Kroetz, Goetz oder Schwab; eine scharfe Komödie auf die ausgeleierte Selbstbemitleidung (ideologisch) Irritierter, aufs grassierende (intellektuelle) Spießertum, das ja nicht allein im Westend wabert.

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Der Boden teilt sich, und aus der Unterbühne der Volksbühne taucht – wie das Puppenhaus unserer Kindheit – ein morsches Mietshaus auf; gleichsam wie ein mit Erinnerung schwer beladener Albtraum aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit.
Wir schauen auf Ostberlin anno 1985, als dort, im Stadtviertel Prenzlauer Berg, eine vornehmlich junge, aufs grenzenlos freie Leben gierige Boheme sich ungeniert breit macht. Doch mindestens die Hälfte der Punks, Heavies, Grufties, der Tramper und Träumer war, wie man heute weiß, Zuträger des DDR-Geheimdienstes, der wiederum mit jedem dieser „negativ dekadenten Elemente“ (kurz: jedem „Negdek“) wie überhaupt mit jedem nonkonformistischen Landeskind die staatliche Existenz bedroht sah. Und ihnen allen den Krieg erklärte.
„Ich bin ein Lügner.“ Gleich der erste einfache Aussagesatz in „Haußmanns Staatssicherheitstheater“ bringt der Autor und Regisseur Leander Haußmann („kein Opfer, Geschädigter“) sein Abtauchen in die eigene Negdek-Jugend auf den Punkt. Es ist Stasi-IM Ludger Fuchs, Deckname Bunter Hund, der ihn sagt. Was folgt, sind dreieinhalb erregende, erhellende, ermüdende, dann wieder aufreizend komische, bloß blödelnde, aber auch tieftraurige und grauenvolle Stunden, die den so hündischen wie brutalen Stasi-Betrieb bloßstellen. Und zugleich demonstrieren, wie verführerisch es ist, aus Lust, Eigennutz oder Angst da mitzumachen.
Es geht Haußmann in seinen Erinnerungen vornehmlich ums Allgemeine, um Leute wie du und ich mit ihren Schwächen und Lächerlichkeiten. Dazwischen wird bedenkenswert politisiert (Warum die „ausgrenzende Sonderbehandlung“ der Stasi laut Einigungsvertrag? Warum blieben Parteisekretäre oder Blockflöten-Bonzen relativ unbehelligt? War die Stasi der Sündenbock für alle schuldig gewordenen Systemverfechter? Was heißt schuldig?). Und vor allem wird eifrig philosophiert, was Wahrheit sei (allein die Aktenlage?) und welchen Nutzen sie habe (Lügen als Lebenshilfe?).
Haußmanns Rückkehr an die einstige Castorf-Volksbühne ist ein anspielungsreicher, verwegener, dann wieder verworrener Ritt durch Kneipen, Kemenaten, „Famielke“-Büros bis hin zu Erich Mielkes Zentrale – alles stilecht verpackt im vielräumigen Mietshaus und vollgestopft mit Kameras, auf dass jeder jeden beobachten kann. Sind doch Täter und Opfer stets dicht beieinander unter einem Dach.
Ja, der sympathisch gerissene Spaßvogel und nüchterne Nachdenker Leander dreht letztlich uns allen eine Nase, die wir fehlbar sind, käuflich, selbstbetrügerisch. Sein schauriges Stasi-Witz-und-Schrecken-Theater will nicht weniger als ein Welttheater stemmen. Und man muss sagen: Er hat sich mal mehr, aber auch – besonders aufregend! – mal weniger verhoben dabei.
Immerhin: Im Plot steckt Hollywood-Geschmack. Hat doch die Stasi ein Einsatzkommando LSD gegründet (gemeint ist der Kiez Lychener, Schliemann, Dunckerstraße), um die dort ansässige Dissi-Szene endlich in den Griff zu kriegen. Für diese Extratruppe voll blindem Hass wie auch wehender Tragik rekrutiert sie junge Mitarbeiter, schult sie mit Hermann-Hesse-Büchern und Stones-Platten aus dem Giftschrank um zu Künstlern und schleust sie ein ins LSD-Quartier. So werden aus verkniffenen Idioten coole Typen. Der coolste schafft es zum auch im Westen berühmten Literaten (Sascha Anderson lässt grüßen). Es ist besagter Ludger Fuchs alias Bunter Hund. Der King der Gang wird als Romeo auf eine Frau angesetzt – und vierzig Minuten lang erleben wir eine Farce aus Observation, Sex, Familienkrach, tödlichem Herzinfarkt samt Leichenbeseitigung. Aberwitz am und im Abgrund.
An dieser Show des finsteren Grauens wie des grellen Allzumenschlichen, fein vermischt mit Ost-Pop sowie dem das ganze DDR-Dilemma packende „Traurig bin ich sowieso“-Lied der schmerzlich berührenden Sängerin Bettina Wegner, an dieser grotesken Revue hat der Autor fünf Jahre lang getüftelt. Es soll nämlich aus dem Theaterstück noch ein Film für die UFA werden. – Den finalen Bühnen-Gag kann Haußmann gleich übernehmen fürs Kino: Da gibts als Bonbon für den Heimweg Manfred Krugs Ohrwurm „Keiner liebt dich so wie ich…“