21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Der ewige Nobelpreis-Kandidat

von Manfred Orlick

Renovierungsarbeiten sind ärgerlich – vor allem das Aus- und Einräumen. Dabei kommt aber auch immer wieder längst Vergessenes ans Tageslicht. Neulich bei der Renovierung des Computerzimmers (im Rentenalter spricht man nicht mehr von Arbeitszimmer) waren es meine alten Lehrbücher. Darunter sechs Bände „Theoretische Physik“ von Arnold Sommerfeld. Mit ihrem hellgrünen Leinenrücken waren sie noch wie neu – und das nach fast einem halben Jahrhundert. In diesem Top-Zustand würde ich bestimmt bei eBay noch einen Interessenten finden.
Ein paar Tage später ein zweiter Sommerfeld-Zufallsfund. Bitte nicht schmunzeln – in der Bücher-Kramkiste des Modemarktes Adler entdeckte ich eine ziemlich ramponierte Broschüre über ehemalige Persönlichkeiten aus Ostpreußen. (Wenn man Königsberger Vorfahren hat, ist das schon von Interesse.) Jedenfalls fand ich neben Kant, Hamann, Herder, Bessel, Corinth und Kollwitz auch Arnold Sommerfeld.
Der Arztsohn wurde vor 150 Jahren, genau am 5. Dezember 1868, in Königsberg geboren. Bereits in der Schulzeit fiel seine ausgeprägte Neigung zu Mathematik und Naturwissenschaften auf, und so studierte er an der Königsberger Albertina Mathematik (unter anderem bei dem bekannten Mathematiker Hilbert). Nach Studium, Promotion und Militärdienst ging Sommerfeld an die Universität Göttingen, die damals ein Ort „mathematischer Hochkultur“ war. Hier kam Sommerfeld auch in Kontakt mit der angewandten Mathematik. 1897 erhielt er einen Ruf auf eine ordentliche Professur der Mathematik an die Bergakademie Clausthal und drei Jahre später an die Technische Hochschule Aachen. 1906 folgte schließlich eine Professur für theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität. Hier konnte sich Sommerfeld endlich der mathematischen Physik widmen. Obwohl er in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Angebote von anderen renommierten Universitäten erhielt, blieb Sommerfeld bis 1939 in München und baute hier ein bedeutendes Zentrum für theoretische Physik auf.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten vor allem Max Planck mit der Quantentheorie und Albert Einstein mit der Relativitätstheorie die moderne Physik begründet. 1913 war es Niels Bohr gelungen, daraus ein Atommodell zu entwickeln. Sommerfeld kombinierte die Relativitätstheorie mit Bohrs Atomtheorie; durch die Einbeziehung von elliptischen Bahnen der Elektronen entstand 1916 schließlich das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell, mit dem sich die spektralen Eigenschaften besser beschreiben ließen. Darüber hinaus befasste sich Sommerfeld mit Themen aus fast allen Teilbereichen der Physik von der Elektronentheorie über die Röntgenstrahlung bis zur Hydrodynamik.
So wichtig Sommerfeld die eigenen Arbeiten auch waren, seine Schule war ihm noch wichtiger. Über dreißig Jahre lang hat er junge theoretische Physiker gelehrt und ausgebildet. Die „Sommerfeld-Schule“, aus der zum Beispiel die Nobelpreisträger Peter Debye, Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg und Hans Bethe hervorgingen, genoss Weltruf. Auch junge Wissenschaftler aus dem Ausland – wie der spätere amerikanische Nobelpreisträger Linus Pauling – waren zu Gast in seinem Institut. Sommerfeld war über drei Jahrzehnte die „graue Eminenz“ der theoretischen Physik, der sich aber auch um geeignete Anstellungen für seine Schüler bemühte. Einstein schrieb einmal an Sommerfeld: „Was ich an Ihnen besonders bewundere, das ist, dass Sie eine so große Zahl junger Talente wie aus dem Boden gestampft haben. Das ist etwas ganz Einzigartiges. Sie müssen eine Gabe haben, die Geister Ihrer Hörer zu veredeln und zu aktivieren.“ Und Heisenberg nannte einmal die Sommerfeld-Schule ein „Erziehungsheim für physikalische Babys“.
Neben der eigenen Forschung und den Vorlesungen prägte Sommerfeld mit zahlreichen Publikationen und Lehrbüchern nachfolgende Physiker-Generationen. So wurde sein erstmals 1919 erschienenes und ständig aktualisiertes Werk „Atombau und Spektrallinien“ zur „Bibel“ der Atomphysik.
Als „Kulturbote“ reiste Sommerfeld in den 1920er Jahren in viele Länder (unter anderem hatte er 1922/23 eine Gastprofessur in den USA inne), um für das Ansehen Deutschlands als Kulturnation zu werben. Der Nationalsozialismus brachte jedoch das Ende seines Institutes. Von den neuen Machthabern wurde er als „Hauptpropagandist jüdischer Theorien“ diffamiert und 1935 aus politischen Gründen emeritiert. Es begann ein langer Streit um seine Nachfolge. Sommerfeld selbst favorisierte Werner Heisenberg, doch letztendlich wurde es mit Wilhelm Müller (NSDAP- und SA-Mitglied) ein Vertreter der ideologischen „Deutschen Physik“. Für Sommerfeld der „denkbar schlechteste Nachfolger“. Nach 1945 widmete sich Sommerfeld (auch auf vielfachen Wunsch ehemaliger Kollegen) der sechsbändigen Ausgabe seiner „Vorlesungen über theoretische Physik“, die heute noch jungen Physikern den Zugang zu diesem schwierigen Metier erleichtern. Am 26. April 1951 starb Sommerfeld im Alter von 82 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls.
Wie schon erwähnt, befanden sich unter seinen Schülern zahlreiche Nobelpreisträger. Ihr Lehrer und Förderer jedoch, dem sie alle viel zu verdanken hatten, hat ihn nie bekommen – auch wenn kein anderer so oft wie Sommerfeld für den Preis vorgeschlagen wurde. Immerhin 81 Nominierungen in der Zeit von 1917 bis 1950 – ein fragwürdiges Privileg. Er war „nur“ der Lehrer der Genies.
Theoretische Physik – für die meisten von uns ein Buch mit mehr als sieben Siegeln. Sommerfeld jedoch war stets um Verständlichkeit bemüht und so konnte es schon passieren, dass er im Seminar einen Vortragenden mit einer „dummen Frage“ konfrontierte, um den Sachverhalt auch für die Zuhörer verständlich zu machen. Ein sympathischer Theoretiker … und so werde ich seine sechs Bände „Theoretische Physik“ nicht bei eBay anbieten.