von Hermann-Peter Eberlein
„Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Dieser Satz prangt programmatisch im Foyer der Berliner theologischen Fakultät an der Burgstraße, der Alten Nationalgalerie und dem Dom gegenüber. Er stammt von Friedrich Schleiermacher, der über zwei Jahrzehnte an dieser Fakultät gewirkt hat und ihr glänzendster Lehrer war. Am 21. November jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal.
Schleiermacher war ein umfassend gebildeter Kopf. Er hat eine bis heute gültige Platon-Übersetzung vorgelegt und der Pädagogik wesentliche Impulse vermittelt. Er hat die Hermeneutik – die Wissenschaft vom Verstehen – auf ganz neue Grundlagen gestellt. Schleiermacher gehörte in seiner Jugend zum Kreis der Berliner Romantik um Henriette Herz und Friedrich Schlegel, mit dem er eine Wohngemeinschaft unterhielt und dessen Skandalroman Lucinde er literarisch verteidigte. Nach der Niederlage Preußens 1807 gehörte er zu den führenden Köpfen der Patriotenpartei im Kampf gegen Napoleon. Er war einer der Mitbegründer der Berliner Universität und einer der führenden Befürworter der vom König initiierten Kirchenunion zwischen Lutheranern und Reformierten. Er kämpfte gegen die politische und kirchliche Reaktion, wurde verdächtigt und bespitzelt.
Vor allem aber war Schleiermacher Theologe – als Pfarrer und als Professor. Mit seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ hat er 1799 die Theologie auf ein neues Fundament gestellt. Durch die Aufklärung nämlich war das Christentum auf Moral und Vernunft reduziert, die Theologie an den Rand gedrängt worden; beide zu verachten, war salonfähig geworden. Schleiermacher nun definiert Religion neu: nicht Metaphysik noch Moral ist ihr Wesen, sondern Anschauung und Gefühl. Damit kommt er seinen jungen romantischen Freunden entgegen, denen die trockene, moraline Aufklärung zu oberlehrerhaft ist.
Zugleich kann er die als überholt empfundene autoritative Haltung der orthodoxen protestantischen Theologie scheinbar leichten Herzens über Bord werfen: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte“ – das ist das Ende der Offenbarungsreligion und der Beginn einer Theologie, die ihren Grund nicht bei Gott, sondern beim Menschen, bei seinen Empfindungen und Gefühlen hat. Anschauung und Gefühl – oder, wie Schleiermacher später sagen wird: Sinn und Geschmack für’s Unendliche – nämlich sind menschliche Eigenschaften, die er für universell hält und die damit eine belastbare Basis abgeben für eine Theologie als Wissenschaft vom Menschen, seinen religiösen Empfindungen und seiner Vergesellschaftung in der Glaubensgemeinschaft der Kirche.
Der Schritt, den eine Generation später Ludwig Feuerbach gehen sollte, Theologie gänzlich als Anthropologie zu verstehen – der Schritt, „die Menschen aus Theologen zu Anthropologen, aus Theophilen zu Philanthropen, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits“ zu machen – ist nicht mehr weit, wird aber charakteristischerweise von Schleiermacher nicht gegangen. Ihm bleibt das Absolute präsent als Ausgangs- und Schlusspunkt aller Urteils- wie Begriffsbildung (Dialektik) und zugleich im Gefühl. Das ist eine Reduktion, die die geschichtliche Religion nicht eliminiert, sondern ihre vernünftige Rekonstruktion ermöglicht und einfordert. So ist Schleiermacher für die liberalen und die vermittelnden Strömungen im deutschsprachigen Protestantismus zu einer Art Kirchenvater seines Jahrhunderts geworden, durch den die Theologie Anschlussfähigkeit gegenüber den Humanwissenschaften gewonnen hatte.
Das währte bis 1919. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs stellte der schweizerische Theologe Karl Barth die Theologie von den Füßen wieder auf den Kopf – sprich: er dachte wieder von Gott und seiner Offenbarung her. Anschlussfähigkeit war angesichts des Untergangs bisheriger Ordnungen und Gewissheiten nicht mehr gefragt, die Rede vom „ganz Anderen“ gab dem Bewusstsein von Umwälzung und Krise Ausdruck. Solcherart autoritäre Theologie, in der der Mensch nur mehr als Empfänger göttlicher Selbstoffenbarung vorkam, ließ sich dann hervorragend brauchen, um das Eindringen nationalsozialistischer Ideologie in den Raum der Kirche abzuwehren: Autorität stand gegen Autorität, Karl Barths „Kirchliche Dogmatik“ gegen Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts“, die Bibel gegen den Führerkult.
Was dazu führte, dass diese autoritäre Theologie auch in der Nachkriegszeit, geadelt durch ihre Funktion im Kampf gegen die Nazi-Ideologie, herrschend blieb. Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigten sich Anzeichen einer Schleiermacher-Renaissance – zunächst in der Universitätstheologie, dann auch in der kirchlichen Praxis. War auch die Theologie Barths noch gut geeignet, den protestantischen Teil der Friedensbewegung zu beflügeln („Schwerter zu Pflugscharen“), so begann man nun doch wieder die Anschlussfähigkeit des Religionsbegriffs an Wissenschaften wie Psychologie oder Soziologie zu schätzen. Seit 1968 existiert die Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel, seit 1979 gibt es eine zweite in Berlin; beide verantworten eine Kritische Gesamtausgabe seiner Werke, die fünf Abteilungen umfasst und in der bisher 26 Bände erschienen sind. Im Jahre 1996 kam es zur Gründung der Schleiermacher-Gesellschaft mit Sitz in Halle, die zu einem Sammelbecken liberaler Theologen aus dem akademischen wie aus dem kirchlichen Milieu wurde; Kongresse und Symposien finden statt, deren Ergebnisse in einer eigenen Buch-Reihe dokumentiert werden.
In den evangelischen Landeskirchen wird das anstehende Jubiläum unterschiedlich wahrgenommen; Schleiermacher scheint hier weniger präsent zu sein als in den derzeit überwiegend kulturprotestantisch-liberal geprägten evangelisch-theologischen Fakultäten. Immerhin hat die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz eine Predigtreihe in den fünf Berliner Citykirchen und zwei Symposien veranstaltet; ein letztes beginnt an Schleiermachers Geburtstag zum Thema „Schleiermacher und Hegel“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Im Rheinland hingegen, wo immerhin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bonner evangelisch-theologische Fakultät durch Schleiermacher-Schüler beherrscht wurde, bildet der Kirchenkampf der 1930er Jahre mit der 1934 verabschiedeten und auch gegen den Schleiermacherschen Ansatz gerichteten „Barmer Theologischen Erklärung“ das Zentrum der kollektiven Selbstverortung; hier bereitet man sich derzeit auf das Jubiläumsjahr zu Karl Barths Römerbrief-Kommentar 2019 vor.
„Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Wenn man denn überhaupt dem protestantischen Christentum in Deutschland noch eine Zukunft zugestehen mag, bleibt die Frage eine Aufgabe – vor allem, da in der Pfarrerschaft Milieus erstarken, die in amerikanisch-freikirchlicher Manier mit Anbetungsgottesdiensten und geschickter Werbung Massen anziehen und Geld akquirieren, deren Niveau aber dem der universitär betriebenen, geisteswissenschaftlich-hermeneutisch orientierten Theologie deutscher Tradition nicht ansatzweise entspricht.
Schlagwörter: Aufklärung, Friedrich Schleiermacher, Hermann-Peter Eberlein, Karl Barth, Protestantismus, Theologie