von Gertraude Clemenz-Kirsch
So mancher Besucher hat sich schon über die großen Stoffpacken vor den Gullys an den Gehsteigen gewundert. Wohlbedacht hat diese die Pariser Straßenreinigung dort deponiert. So funktioniert es: Das Wasser der Seine wird durch den Gully hochgepumpt und ein Chiffon de barrage, eine Rolle aus einem alten Teppichstück und Lumpen, der vor dem Gully liegt, regelt den Fluss. Dann kommt der freundliche dunkelhäutige Arbeiter und kehrt den Rinnstein sauber. Er lacht, dass man staunt, posiert für ein Foto – und läuft davon. Menschen aus Afrika haben das Monopol für die Straßenreinigung in ihrer Hand, sodass ihnen ihre Arbeitsplätze sicher sind. Ihre leuchtend grünen Anzüge, die mit ebensolchen grünfarbigen Besen abgestimmt sind, und die orangefarbenen Westen geben ein fröhliches Straßenbild. Auch auf den Straßenkreuzungen sorgen sie für den reibungslosen Ablauf des Verkehrs, was in der mit Autos, Fahrrädern und Touristen übervollen Stadt keine leichte Tätigkeit ist.
In der Rue Saint Denis – der einstigen Pilgerstraße hin zur Grablege der französischen Könige, der Kathedrale Saint Denis – findet man die Stadt wie so jede andere Großstadt in der Welt vor. Da werden am Vormittag die kleinen Geschäfte beliefert, die ersten Passanten treffen sich zum Schwatz und die Cafés füllen sich.
Zu dieser Zeit stört es keinen Kellner, wenn der Gast lange sitzen bleibt, denn der will sich hier erholen, einen Espresso oder etwas anderes zu sich nehmen und vor allem die Leute beobachten. Es ist das Schönste in einem Pariser Straßencafé, die Leute zu beobachten: Da bittet eine schöne dunkelhäutige Mutter mit ihrem Söhnchen um ein Foto und betrachtet es anschließend mit ganzem Mutterstolz auf dem Display ihres Apparates, während mich der Kleine mit großen Augen anschaut; ein Stück weiter erzeugt eine Frau aus der Mongolei auf einem Instrument Töne, die eher dunkel schnurren, als dass sie klingen, und ein angebundener Regenschirm wartet ebenso auf seinen Besitzer wie das Fahrrad mit einer gewaltigen Acht im Hinterrad. Und überhaupt die Fahrräder in Paris! Doch dann – was ist das?
Das ist die Rue Saint Denis. Da sollte man sich nicht wundern, c’est normal ici. Hier trifft man die älteren Prostituierten. Aber während die Mutter mich um ein Foto bat, heißt es jetzt: kein Foto!
Die Geschichte mit dem Foto der Dame vor der Werbung Miss Bonbon verlief folgendermaßen: Ich wusste, dass man hier nicht fotografiert, aber ich sah sie und war so hingerissen von dem Charme, den sie ausstrahlte, dass ich auf den Auslöser drückte. Mit einer kleinen Bewegung des Zeigefingers bedeutete sie mir, zu ihr zu kommen, was ich sofort befolgte. Ich stellte mich vor und erzählte von meinem Anliegen und fragte sie, ob ich das Foto, das ich ihr zeigte, behalten dürfe. Gnädig nickte sie mit dem Kopf. In diesem Moment umkreiste mich eine Schar kräftig bemalter leichter Damen in Strapsen und bezeugten Interesse an mir. Auf der Stelle scheuchte „meine Dame“ sie weg. Die freundliche Unterhaltung wurde fortgesetzt. Ob ich etwas aus ihrem Leben erfahren könnte? Da schüttelte sie lächelnd den Kopf und verneinte mit einer Geste, die man bei unartigen Kindern anwendet, um sie von einer Dummheit abzuwenden. Ich bedankte mich, ging davon, und dachte noch lange an die würdevolle Begegnung mit dieser Frau. Wie gern hätte ich mehr erfahren. Doch jedes Jahr, wenn ich in Paris bin, sehen wir uns an gleicher Stelle erfreut wieder und umarmen uns herzlich.
Natürlich ist dieses Gewerbe so alt wie unsere Welt, und immer wieder wollte man es unterdrücken. So liest man im „Dictionaire de Paris“, dass „der erste amtliche Akt, der den Beweis antritt, die Sitten zu reformieren, auf Charlemagne zurückgeht. Es ist ein Kapitular aus dem Jahr achthundert, das den Schmerz der Peitsche gegen die Frauen der Ausschweifung anspricht und verfügt, dass der Hausherr, bei dem man eines von diesen Frauenzimmern findet, gezwungen würde, sie auf seinen Schultern bis zur Place du Marché zu tragen und man im Falle der Weigerung auch ihn mit ihr auspeitschen würde.“
Ausgepeitscht wird heute niemand mehr, der damalige Innenminister Sarkozy aber erließ am 18. März 2003 ein Gesetz gegen die Prostitution. Nach Aussage der Polizei leben in Frankreich zwischen 15.000 und 18.000 Personen von der Prostitution. Auf Wunsch des Bürgermeisters von Paris wurde vor einigen Jahren in der Hauptstadt eine Untersuchung über den Zustand der Prostitution vorgenommen. Sie berichtet über die unterschiedlichsten Arten der Prostitution: Prostituierte de luxe, Europäerinnen aus dem Osten, Südamerikanerinnen, eine Vielfalt kontinentaler und kultureller Abstammungen gehören zu allen sozialen Schichten allen Alters. Alleinstehende oder Verheiratete, mit und ohne Kinder, Männer und Frauen, Hetero, Bi- oder Homosexuelle, Zufällige oder Reguläre. Manche suchen nach Zärtlichkeit, andere nach dem sexuellen Akt. So findet man die Prostituierten an alten zentralen Orten wie dem Bahnhofsviertel, in der Nähe der Denkmäler, Madeleine oder Arc de Triomphe, Pigalle oder in der Rue Saint Denis. Die Parks von Boulogne und von Vincennes, aber auch der Gürtel von Paris waren die Zentren der Prostitution bis zum Inkrafttreten des Gesetzes für Innere Sicherheit. Um vierzig Prozent soll die Prostitution zurückgegangen sein, doch die Zahlen des Ministeriums des Inneren sollen schwer zu verifizieren sein. Das Geschäft geht weiter, die Orte richten sich nach den Kunden.
Ein paar Schritte weiter hin zur Porte Saint-Denis, wo die Rue Saint Denis auf den Boulevard Saint Denis stößt, befand sich einst die zweite Stadtmauer. In dieser Gegend ist Paris am interessantesten. Winzige Passagen, einst Wehrgänge innerhalb des Festungsrings aus dem 14. Jahrhundert, verbinden die Straßen untereinander. Hier sollte man sich sehr viel Zeit nehmen, neugierig sein und manche der alten, verwitterten Türen aufstoßen. Beim Hineingehen denkt man, gleich kommt die Balkendecke herabgestürzt, doch das passiert nicht. Nach wenigen Schritten fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Es ist ein anderes Leben, eine andere Zeit, die sich hinter den Türen verbirgt. Im nächsten Durchgang winken mir chinesische Näherinnen und Näher freundlich zu und gestatten, dass ich sie fotografiere. Sie wohnen in den Passagenhäusern, die wir nur noch aus den Filmen mit Jean Gabin kennen. In dieser Ecke, zwischen der Rue Sainte- Foy und der Rue d’Aboukir, befanden sich einst, wie uns der alte Paris-Journalist Stefan Troller verrät, die Cours de miracles, die Mirakelhöfe, in denen Arme, Zigeuner, Herumziehende und Bettler lebten. Hier hatten sie sich ihren eigenen Staat mir einer hierarchischen Ordnung geschaffen. „Erst Ludwig XIX. schuf das Amt eines Lieutenant générale de police, der als Richter am Pariser Gericht die Leitung der Polizeikräfte innehatte und eine beachtliche bewaffnete Truppe befehligte. Der erste Amtsträger, La Reynie, räumte die Cours de miracles und ordnete die ‚große Gefangenschaft‘ an, bei der Bettler und auffällige Personen in die Hospitäler-Gefängnisse La Salpêtrière und Bicêtre gesperrt wurden“, verrät und der Paris-Kenner Eric Hazan. In diesen Höfen hausten die Elenden aus Victor Hugos Roman „Notre Dame von Paris“ mit der schönen Esmeralda.
Zurück auf die Île de la Cité, von wo man den eindrucksvollsten Blick auf die Concièrgerie hat. 1793 hatte das Straf- und Revolutionsgericht seinen Sitz in diesem Gebäude. Fast dreitausend Gefangene, unter ihnen auch Marie-Antoinette, fristeten in den kalten Gewölben ihre letzten Stunden vor der Hinrichtung unter der Guillotine. Heute nennt man die Concièrge Gardienne. Sie hat ihre kleine Wohnung im Durchgang zwischen Vorder- und dem vornehmeren Hinterhaus. Sie sind selten geworden, da im modernen Paris die Häuser durch elektronische Codes gesichert sind.
Damit endet unser genüssliches Flanieren in Paris und an der Seine, und wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, noch nicht genug davon haben, fahren Sie einfach in diese aufregende, so interessante und anstrengende Stadt!
Ihre Gertraude Clemenz-Kirsch, die Ihnen in ihrem Buch „Süchtig nach Paris“ (Dingsda-Verlag Leipzig) auch die Fotos zu den Ereignissen zeigt.
Schlagwörter: Concièrgerie, Gertraude Clemenz-Kirsch, Île de la Cité, Paris, Prostitution, Rue Saint Denis