21. Jahrgang | Nummer 20 | 24. September 2018

Reminiszenzen an Charlotte

von Ingeborg Dittmann

Von Trelleborg aus die Ostküste Schwedens erkundend, waren wir mit unserem Wohnmobil in Stockholm angekommen. Wollten danach quer durchs Land zur Westküste fahren. Ich schaute auf die Landkarte und entdeckte in 70 Kilometer Entfernung von Stockholm den kleinen Ort Mariefred – und damit Schloss Gripsholm. Ich konnte meinen beiden eher sportlich orientierten Begleitern einen kurzen Kulturstopp an diesem Ort abringen, an dem 1931 Tuchos „Sommergeschichte“ entstand. Zumal ich gelesen hatte, dass sich auf dem Friedhof des Örtchens das Grab Kurt Tucholskys befindet. Davor stand ich nun und war tief bewegt, Peter Panter, Kaspar Hauser, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel, kurz gesagt Tucho, die späte Ehre erweisen zu können.
Plötzlich kam mir eine weitere Idee: Schaut doch mal in eure supertollen Smartphones, ob ihr was über Porla Brunn findet, bat ich meine jungen Begleiter. „Porla was? Gibt es nicht.“ Es dauerte, doch schließlich war die Route klar. Ein einziges Mal wollte ich dort sein, wo Charlotte von Mahlsdorf (Lothar Berfelde) die letzten fünf Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
„Es hört nicht auf zu regnen.“ – So lautete der erste Satz einer Reportage, die vor 21 Jahren in der Berliner Zeitung erschien. Deren damaliger Star-Reporter hatte sich höchst selbst in die Tiefen der schwedischen Wälder begeben, um Charlotte von Mahlsdorf, die im früheren Heilquellenort Porla Brunn von 1997 bis 2002 ihr „Sekelskiftesmuseet“ führte, mal so richtig auf den Zahn zu fühlen. Von wegen Retterin von Schloss Friedrichsfelde und so. Alles nur ersponnene Geschichten…
Auch als ich am 12. Juli 2018, dank modernstem Navi und Smartphone meiner Reisebegleiter, das verträumte Örtchen, das auf keiner Landkarte zu finden war, gegen 21.30 Uhr erreiche, regnete es (übrigens zum ersten und letzten Mal auf unserer zwölftägigen Tour durch Schweden). Das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit mit dem Report des Kollegen, den ich als ziemlich respektlos empfand. Wenn er sich schon mal in diese „Ödnis“ begeben hatte, hätte ich erwartet, dass er bei seiner Recherche nachhakt, um herauszufinden, weshalb Charlotte, die sich ihr Leben lang so tief mit ihrer Heimatstadt Berlin verbunden fühlte, gerade hier landete und mit knapp 70, nicht bei bester Gesundheit, noch einmal ganz von vorn anfing. Mit einem fast hoffnungslosen Unternehmen, einem Gründerzeitmuseum (in Schweden gibt es diese Tradition nicht), noch dazu abseits aller touristischen Routen. Dass sie falschen Versprechungen ihrer beiden „Mitarbeiterinnen“ Beate J. und Silvia S. auf den Leim ging, die sich auf Charlottes Kosten eigene Aussteigerträume erfüllen wollten, sie finanziell abschöpften und sie schließlich allein ließen. Stattdessen gab sich der investigative Journalist mit der Aussage „Hier ist die Luft so gut und die Natur“ zufrieden. Die wahren Übeltäter aufzusuchen, die sich mit ihren Eltern und Compagnon M. bei Charlotte einnisteten, zur Rede zu stellen, das wäre wohl zu aufwändig gewesen. Oder reichten die Spesen nicht?
Auch Klaus Teßmann, der zuletzt im März 2014 im Blättchen über Charlottes Beweggründe zum „schwedischen Asyl“ schrieb, kann ich nicht vorbehaltlos folgen: Dass sich Charlotte von der Kulturpolitik Berlins vernachlässigt gefühlt habe. Und dass der neofaschistische Überfall beim Lesben- und Schwulenfest im Mai 1991 sie1997 (!) zu diesem Schritt veranlasst habe. Charlotte, so naiv sie auch in vielen Dingen gewesen sein mag, hatte so viele schwierige, oft aussichtslose Situationen in ihrem Leben gemeistert, dass die eben genannten Tatsachen einfach nicht Grund für ihre „Flucht“ sein konnten. War sie doch so eng mit ihrem 1960 eröffneten Lebenswerk, dem Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf, verbunden, mit dem quirligen Berlin und all den Freunden in der Schwulenszene. Warum wohl nahm Charlotte in den fünf Jahren Porla den beschwerlichen langen Weg nach Berlin mehrere Male auf sich? Blühte dort regelrecht auf, wie ich selbst erlebt hatte, als ich sie kurz vor ihrem Tod (am 30. April 2002) nach Alt-Ranft und ins Schloss Dahlwitz begleiten konnte.
Sie muss sehr einsam gewesen sein in Porla, gelegen zwischen den schwedischen Binnenmeeren Vättern und Vänern in der Region Örebro, abseits der Zivilisation. In der 54-Seelen-Gemeinde mit 19 Holzvillen, die noch ein wenig vom Flair des alten aristokratischen Kurortes zehren, der Porla zwischen 1677 und 1939 war. In einer baufälligen Holzvilla, voller Antiquitäten und Schätze aus der Gründerzeit, lebte Charlotte mit 680 Mark Rente spartanisch und in ständiger finanzieller Not. „Ich habe Eimer aufgestellt, es tropft mal wieder vom Dach“, erzählte sie bei einem unserer Telefonate. Es war der Tag ihres Geburtstages im März – im tiefsten schwedischen Winter. „Ja, ich bin allein, ich habe überall Kerzen angezündet und mir einen Pfefferminztee gebrüht.“ – Derweil verdienten sich andere bis hin nach Amerika eine goldene Nase mit der medialen Vermarktung von Charlottes Biografie!
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich am verregneten Juli-Abend anno 2018, sechzehn Jahre nach ihrem plötzlichen Herztod mit 74 Jahren, vor dem Eingang „ihrer“ Villa Hamilton in Porla Brunn stehe. Ein Augenblick, der mich emotional aufwühlt. Ich weiß, wie viel Mühe, Arbeit und Geld sie in dieses über hundert Jahre alte Haus gesteckt hat. Und nun? Ein verwildertes Grundstück mit einem Dutzend alter Autos drum herum. Von der Fassade blättert die Farbe. Wie ich in einem vor Jahren erschienenen Artikel aus Dagens Nyheter las, soll ein Paar aus dem 50 Kilometer entfernten Örebro die Villa gekauft und restauriert haben. Davon ist nichts mehr zu sehen. Ich entdecke ein mit Plastiksäcken verhängtes Schild kurz vor der Villa Hamilton. Vielleicht ein letzter Hinweis auf die einst berühmte Bewohnerin des kleinen Ortes? Vielleicht sogar eine Gedenktafel? Aber das Schild weist nur auf das Brunnenmuseum hin. Vielleicht gibt es dort eine Erinnerung an Charlotte und ihr Museum? Aber es ist 22 Uhr, es regnet und der Ort ist wie ausgestorben. Googelt man „Porla Brunn“, ist einzig die Rede von der Firma, die noch heute das Heilwasser „Porlavatten“ in Flaschen abfüllt und bestens vermarktet.
Im Jahr 2004 holte der Förderverein des Gutshauses Charlottes Museumsschätze aus Schweden zurück nach Berlin ins Gründerzeitmuseum am Hultschiner Damm. Wie schrieb doch der Journalist Mats Sjöberg in der Zeitung Dagens Nyheter? „Fast alle Spuren von Charlotte von Mahlsdorf in Porla Brunn sind verschwunden. Nur die Erinnerung an den robusten Transvestiten, wahrscheinlich der bemerkenswerteste Einwohner der Gemeinde Laxä, bleibt.“

Leicht bearbeitete Fassung aus jot w.d. Nr. 8/2018. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin.