21. Jahrgang | Nummer 19 | 10. September 2018

Der Einstein der DDR

von Dieter Hoffmann

„Wenn sich an unserer Akademie auch kein Genie befindet, so haben wir doch ihn als dem Genie am nächsten Kommenden.“ So charakterisierte Jürgen Kuczynski, Praeceptor der DDR-Gesellschaftswissenschaften, bewundernd seinen Akademie-Kollegen, den Physiker Hans-Jürgen Treder. Dies war auch das vorherrschende Bild Treders in der DDR: ein geniehafter, gleichermaßen abgehobener, wie skurriler Professor, der als „Einstein der DDR“ dem Geheimnis des Kosmos auf der Spur war. Auch wenn er diesen Titel immer als „Blödsinn“ von sich gewiesen hat, wurde dieses Bild von ihm ausgefüllt und bedient.
Schon in seiner Jugend galt Treder – vor 90 Jahren am 4. September 1928 in Berlin-Charlottenburg geboren – als Wunderkind. So glänzte der Gymnasiast mit außergewöhnlichen Kenntnissen in den Naturwissenschaften und insbesondere der Mathematik. Bereits der 15-Jährige hatte sich mit Einsteins Relativitätstheorie so intensiv auseinandergesetzt, dass er von Werner Heisenberg, dem damals wohl renommiertesten Physiker Deutschlands, eingeladen wurde, mit ihm vermeintliche Widersprüche in Einsteins Theorie zu diskutierten. Von da an stand fest, dass er Physik studieren würde.
Zunächst waren aber Krieg und Nazi-Diktatur zu überstehen. Eine Zeit, die für den Heranwachsenden prägend war und seine politischen Ansichten bestimmte. Treders antifaschistische Haltung sowie die Lektüre der Schriften der marxistischen Klassiker ließen ihn nach dem Ende des mörderischen Kriegs nicht zufällig mit dem Kommunismus sympathisieren und den 18-Jährigen Mitglied der SED werden. Darüber hinaus gründete er 1946 mit Gleichgesinnten in Charlottenburg die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Aus dieser Zeit stammt wohl auch Treders persönliche Bekanntschaft mit Erich Honecker.
Ebenfalls 1946 begann Treder, an der Technischen Hochschule in Charlottenburg Mathematik und Physik zu studieren. Nach drei Semestern wechselt er an die heutige Humboldt-Universität, wo er nun Philosophie studierte. Für den 20-jährigen Studenten war dies nicht nur eine intellektuelle Entscheidung, sondern auch ein politisches Bekenntnis.
Ende 1952 und nach einer langwierigen Erkrankung, deren Symptome sein gesamtes Leben prägen sollten, kehrte er zur Physik zurück. Allerdings absolvierte er in der Folgezeit kein reguläres Physikstudium, sondern erarbeitete sich den Kanon physikalischen Wissens weitgehend im Selbststudium und beschäftigte sich an der Akademie der Wissenschaften unter Anleitung seines akademischen Lehrers Achilles Papapetrou mit Fragen der Kosmologie und der allgemeinen Feldtheorie. Damit hatte Treder sein Lebensthema gefunden: Die Allgemeine Relativitätstheorie beziehungsweise Gravitationstheorie und ihr Schöpfer Albert Einstein.
Bereits 1954 legte Treder seine Dissertationsschrift vor, doch wurde das Promotionsverfahren sehr dilatorisch behandelt, da die Fakultät die Zulassung wegen des nicht regulären Physikstudiums zunächst ablehnte. Erst nach massiver Intervention des Staatssekretariats für Hochschulwesen konnte das Verfahren zwei Jahre später erfolgreich abgeschlossen werden. In den Jahren nach seiner Promotion entwickelte Treder eine beachtliche Produktivität, die ihn schon in jungen Jahren zu einem auch international beachteten Relativitätstheoretiker machte.
Nach der Habilitation im Jahre 1961 war der Weg für eine steile Wissenschaftskarriere frei. Für Treder sprach nicht nur seine wissenschaftliche Exzellenz, sondern auch dass es in der damaligen DDR an jüngeren Wissenschaftlern seines Formats mangelte, hatten doch viele hoffnungsvolle Talente bis zum Mauerbau dem Land den Rücken gekehrt. Treder füllte diese Lücke aus und wurde von einflussreichen Physikern wie Robert Rompe oder Gustav Hertz gefördert, aber auch durch die offizielle Wissenschaftsbürokratie protegiert. Schon 1963 ernannte man ihn zum Professor und 1966 folgte die Wahl in die Akademie. Damit war Treder relativ jung in den wissenschaftlichen Olymp aufgestiegen, wobei die Akademiemitgliedschaft sowohl Anerkennung seiner Forschungsarbeit, als auch Zuwachs an wissenschaftlicher Reputation und wissenschaftspolitischen Einflussmöglichkeiten bedeutete. Flankiert wurde die honorige Akademiemitgliedschaft in der Folgezeit durch die Berufung in hohe Leitungsämter der Akademie.
Treders frühe Arbeiten zeigen ihn als virtuosen mathematischen Physiker, der Kärrnerarbeit bei der Lösung von Einsteins Feldgleichungen leistete und bei aller „Rechnerei“ die Grundlagen der Einsteinschen Theorie immer im Auge behielt. Dabei wurde – trotz substantieller Erweiterung der Forschungsinteressen – stets dem „Leitstern Einstein“ gefolgt und die Vereinheitlichung der Physik über deren Geometrisierung versucht. Jedoch ist festzustellen, dass all diese Bemühungen keinen durchschlagenden Erfolg brachten, denn das Problem der Quantengravitation ist bis heute ungelöst und gehört nach wie vor zu den großen Herausforderungen der modernen Physik.
Treder behielt bei der Behandlung physikalischer Probleme stets auch deren historische und erkenntnistheoretische Kontexte im Blick. Allerdings folgte dieser Universalismus nicht unbedingt dem Mainstream der zeitgenössischen Gravitationsforschung. Auffällig ist zudem, dass erkenntnistheoretisch-philosophische sowie historische Fragen in Treders spätem Schaffen einen zunehmenden Stellenwert bekamen. Viele der Publikationen aus den siebziger und achtziger Jahren ließen sich problemlos in die Rubrik Foundations of Physics einordnen.
Eine weitere Dimension seines Schaffens erschloss sich Treder mit wissenschaftshistorischen Studien, wobei die umfangreiche Quellenedition „Einstein in Berlin“ zum Einstein-Centenarium 1979 herausragt und noch heute zur Standardliteratur gehört. Dabei wollte er nicht zuletzt die Erinnerung an die großen Traditionen des Wissenschaftsstandorts Berlin wachhalten. Er prägte den Terminus der „Großen Berliner Physik“, als dessen Sachwalter er sich verstand.
Treder wird so in unseren schnelllebigen Tagen, wo die Halbwertszeit physikalischen Wissens nach Jahren bemessen ist, häufig stärker als Historiker und Philosoph der Physik erinnert, denn als Physiker. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass Treder mit der politischen Wende in der DDR tief fiel. Sein Institut wurde – wie die Institute der Akademie insgesamt – abgewickelt und er selbst in den Vorruhestand geschickt. Dies nicht allein wegen seiner Zugehörigkeit zur wissenschaftlichen Nomenklatura der DDR, sondern nicht zuletzt weil seine späten Forschungen kaum die Probleme der aktuellen Gravitationsforschung behandelten und dementsprechend schlecht evaluiert worden waren. Auch hatte er mit ernsten gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.
Am 28. November 2006 vollendete sich – 78-jährig – das Leben von Hans-Jürgen Treder. Seine Lebensleistung lässt sich zwar nicht mit der seines großen Vorbilds Albert Einstein oder anderer Bahnbrecher der modernen Physik vergleichen, doch hat Treder insbesondere in seinem frühen Schaffen die Gravitationsphysik auf hohem Niveau betrieben und bereichert, so dass er für Leopold Infeld, einstiger Mitarbeiter Einsteins, der „beste Relativist der DDR“ war.
Auch wenn dieses Lob für seine späten Forschungen nicht mehr uneingeschränkt gilt, haben wissenschaftliche Exzellenz, die ihn umgebende Aura und wohl auch seine Gebrechlichkeit dazu geführt, dass Treder in der DDR zu jener geniehaften Ausnahmeerscheinung stilisiert wurde, als die er von vielen seiner Zeitgenossen und Kollegen nicht nur in der DDR verehrt, ja gehuldigt wurde.
Dies waren sicher Überschätzungen im isolierten Biotop der größten DDR der Welt, was die Lebensleistung von Hans-Jürgen Treder zwar relativiert, jedoch keineswegs infrage stellt.

Vom 4. September bis 15. November 2018 ist in der Potsdamer Urania (Gutenbergstraße 71/72) eine Ausstellung der Potsdamer Fotografin Monika Schulz-Fieguth mit Porträts Hans-Jürgen Treders zu sehen.
Das Begleitbuch kostet 35,00 Euro und kann über m@schulz-fieguth.de bestellt werden.

Prof. Dr. Dieter Hoffmann, Jahrgang 1948, studierte Physik und war zuletzt wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Seit 2002 ist er Mitglied der International Academy of the History of Science und seit 2010 der Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften.
Der Autor ist Verfasser von 350 wissenschaftlichen Aufsätzen sowie (Mit-)Herausgeber von über 50 Büchern oder selbständigen Schriften. Er lebt in Berlin.