14. Jahrgang | Nummer 8 | 18. April 2011

Abschalten – und zwar so schnell wie möglich!

von Ulrich Scharfenorth

Am 12. April war in Japan nichts mehr unter der Decke zu halten. An diesem Tag hat die japanische Atomaufsicht dem Gau in Fukushima die höchste Gefahrenstufe Sieben zuordnen müssen, ein Etikett, das bisher nur für Tschernobyl galt. Stufe Sieben bedeutet: katastrophaler Unfall, sprich – schwerste Freisetzung von Radioaktivität mit Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld.
Die Auswirkungen der Strahlung in Luft, Wasser und Lebensmitteln, so hieß es dann auch aus japanischen Regierungskreisen, seien umfassend – was auch immer das konkret bedeuten sollte. Ein Sprecher, der auf Tokios Gemüsemärkten für (bessere) Stimmung sorgen wollte und deshalb auf „Tomaten aus verstrahltem Anbau“ herumbiss, gab sich dennoch gelassen. Bisher – so ließ er verlauten – seien in Fukushima „nur“ etwa zehn Prozent der in Tschernobyl beobachteten Emissionen registriert worden. Experten des Fukushima-Betreibers Tepco meinten allerdings, dass der japanische Gau die Ausmaße des sowjetischen durchaus erreichen beziehungsweise übertreffen könnte – wenn es nicht bald gelinge, die für den Ausstoß radioaktiver Stoffe verantwortlichen Prozesse zu stoppen.
An den Tagen zuvor hatte sich verdächtige Ruhe eingestellt. Das Medieninteresse schien verebbt und auf andere, sensationellere News fokussiert. Kaum einer der Journalisten sah sich genötigt, das Thema heiß zu halten – obwohl stündlich das Furchtbarste passierte, was Menschen an diesem Ort widerfahren konnte.
Nicht einmal an diesem 12. April, nicht einmal vier Wochen nach der Katastrophe, gibt es verlässliche Analysen. Nichts, woraus ersichtlich wäre, was an den Reaktoren des KKWs tatsächlich geschehen ist. Mutmaßungen orientieren sich an Messwerten, auf deren Treffsicherheit und Aussagekraft sich niemand verlassen will. Die Gesamtschau, auch die auf Deutschland, ist gespenstig.
Nahezu alle Experten gehen davon aus, dass die Kernschmelze zumindest in einem Reaktor, wahrscheinlich aber in mehreren Reaktoren, stattgefunden hat. Aussagen darüber, was eine solche Schmelze impliziert und konkret auslösen kann, ob Kernschmelzen zu stoppen oder bis zur Erschöpfung ihrer energetischen Ressourcen gen Erdmittelpunkt unterwegs sind (und dabei dass Grundwasser dauerhaft schädigen), fehlen rundum. Am 7. April wurde in der ARD-Sendung „Monitor“ berichtet, dass man über ein Papier der französisch-deutschen Firma AREVA (Geschäftspartner von Tepco) verfüge, das Einzelheiten über die Geschehnisse nach dem 11. März preisgebe. Hiernach soll es in mindestens zwei Abklingbecken, in denen hunderte Tonnen abgebrannter Brennstäbe lagerten, wegen Wassermangels zur Kernschmelze gekommen sein.
Derzeit muss man davon ausgehen, dass die fast hilflose Kühlung nach wie zu großen Mengen an kontaminiertem Wasser führt, das nach Schließen des Druckbehälter-Lecks in Reaktor 2 zwar weniger radioaktiv verseucht ist als zuvor, aber dennoch eine stetige Bedrohung der Umwelt darstellt. Denn eine zufriedenstellende Auslagerung ist nicht in Sicht. Eines muss der Betrachter wissen: Erst die Wiederherstellung in sich geschlossener Kühlkreisläufe könnte die Situation signifikant verbessern, sprich: die angestrebte kontrollierte Abkühlung der Brennstäbe, das Einhegen der Emissionen und die nachfolgende Errichtung eines Sarkophags sicherstellen. Davon aber ist das Management, sind die mittlerweile 800 Mann vor Ort, offenbar weit entfernt. Noch entsteht beim Auftreffen des Löschwassers auf die Druckbehälter mehr oder weniger stark kontaminiertes Wasser, beim Auftreffen auf Brennstäbe in Reaktorblöcken (mit einiger Sicherheit im Reaktorblock 2) oder in Abklingbecken radioaktiver Dampf unterschiedlicher Intensität, der am Entstehungsort stetig an die Umwelt abgegeben wird. Möglich, dass aus trocknen, „in der Kernschmelze liegenden“ Abklingbecken stark radioaktiver Staub aufsteigt. Da die Wasserkreisläufe der Siedewasserreaktoren zum Stillstand kamen, ist davon auszugehen, dass nur dort noch Wasser an die Brennstäbe gelangt, wo innere Druckbehälter beschädigt sind. Hier ist dann Kühlung möglich, allerdings um den Preis einer wachsenden Explosionsgefahr. Ob man der seit dem 7. April bewusst und an dieser Stelle (durch das Einbringen von Stickstoff) beikommen will oder kann, ist unklar. Niemand weiß, ob es bereits gelungen ist, einen Kreislauf oder Teile davon zu installieren. Folglich geht das Raten weiter: Entweder sind sämtliche Druckbehälter beschädigt und „ziehen“ Wasser (die Brennstäbe werden gekühlt, das Wasser wird zu austretendem radioaktiven Dampf) oder in noch un- bzw. leicht beschädigten Druckbehältern läuft die Kernschmelze – mit noch unabsehbaren Folgen.
Alarmierend ist auch das Austreten von hoch giftigem Plutonium, das aus Mischoxid-Brennstäben (Reaktor 3, Abklingbecken Reaktor 4) stammt und wegen hoher Wichte (konzentrierte Ablagerung in der Nähe des Emissions-Ortes) und langer Halbwertzeit (Pu 239 = 24.100 Jahre) besonders gefährlich ist. Noch erschreckender ist die Tatsache, dass in Fukushima eine gewaltige Zahl von Brennelementen (14.000, das entspricht etwa 25 Reaktorkernen) – zum großen Teil in Abklingbecken – gelagert wird.
Der Journalist Jens Jessen hat in einem aufsehenerregenden Text für Die Zeit versucht, die abrupte Neigung vieler Deutscher – weg von der Kernenergie – zu deuten und dabei mehr als Porzellan zerschlagen. Denn nach seinem Gusto ist der Schwenk vornehmlich dadurch zu erklären, dass die Landsleute hysterische Angst, ihren Verstand an der Garderobe abgegeben und ihre Freude am Bejammern kultiviert haben. Allenfalls sei der Blick aufs Rest-Risiko geschärft worden, und das bestimme jetzt alles. Japan – so der Autor weiter – sei eben ein Erdbebenland. Hier sei nicht das Unwahrscheinliche, nicht der Ausnahmefall, sondern das Erwartbare eingetreten. Unsere Zivilisation käme sofort an ihr Ende, wenn wir jede Regel nach dem Ausnahmefall richteten.
Nun, was heißt das? Jessen hat das, was Kernenergie ausmacht, offenbar nie begriffen. Zum anderen müsste er wissen, dass der Widerstand gegen die unheilvolle Technologie in Deutschland, Europa und der Welt nur dann eine Chance hat, wenn das Restrisiko ins Bewusstsein zurückkehrt. Tschernobyl hat sich – so schrecklich das auch ist – abgewetzt. Im Gegensatz zu jeder anderen Technologie implizieren die Kernenergie und der Umgang mit ihr völlig andere Gesetzlichkeiten. Eine einstürzende Brücke, ein entgleisender ICE, eine abbrennende Firma für Pyrotechnik, ja selbst das Hochgehen einer Chemiefabrik sind – was ihre Restrisiko-Inhalte betrifft – nichts, ja gar nichts im Vergleich zum Supergau. Mancher Standardunfall kostet zwar auch Menschenleben, schafft Unheil und Unglück. Irgendwann aber ist er vergessen. Ausschließlich beim nuklearen Gau wird das Unbeherrschbare, Unfassbare, wird die Hydra belebt, die Büchse der Pandora aufgestoßen. All das frisst sich und währt – je nach „Indikation“ und „Medium“ – Jahre, Jahrzehnte oder bis wir alle und zig Generationen nach uns tot sind. Dass wir ganze Landschaften für diese Zeit stillsetzen und umschiffen müssen, muss neuerlich hinein in die Köpfe. Auch wenn Ort, Zeitpunkt und konkrete Qual fern scheinen: Wir müssen begreifen, dass Havarien wie die in Fukushima, auch bei uns stattfinden können. Hier über Wahrscheinlichkeiten zu feilschen, ist Beihilfe zum Mord. Das dies trotzdem und immer wieder geschieht, hat weniger mit sachlichem Unverständnis als mit heilloser Gier und damit zu tun, das Leben allzu oft mit der eigenen beschränkten Existenz verwechselt wird. Allein die zusätzlichen Malaisen der Kerntechnologie (Verstrahlung der Minenarbeiter bei der Uranerzgewinnung, ungeschützte Zwischenlagerung und fehlende Endlagerung) sind Grund genug, das Monster „Kernkraft“ auf Dauer zu verbannen. Jetzt aber, da der Gau der Stufe Sieben in aller Schrecklichkeit sichtbar wird, muss die Schlussfolgerung doppelt gelten: Schnellstmögliche Stillsetzung der bestehenden KKW und Neubau-Verbot!