21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Kreativität kann man trainieren

von Frank Ufen

In den Augen des Gehirnforschers David Eagleman und des Musikwissenschaftlers und Komponisten Anthony Brandt ist das menschliche Gehirn ein merkwürdiges Ding. Einerseits liegt ihm das Gewohnte und Berechenbare, denn dann kann es seine Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsautomatismen abspulen und dadurch viel Energie einsparen. Andererseits ist das Gehirn rastlos auf der Suche nach Überraschendem, Unvorhersehbarem und Neuem und wird augenblicklich hellwach, wenn es sich darum handelt, auf solche Herausforderungen mit innovativen Strategien und Ideen zu antworten.
Mit der Frage, was sich im Gehirn abspielt, wenn das Denken erfinderisch wird, halten sich die Autoren nicht lange auf, offenbar deswegen, weil davon ohnehin immer nur Bruchteile ins Bewusstsein vordringen. Stattdessen arbeiten sie heraus, in welchem Maße jede Form der Kreativität ein sozialer Prozess ist. Sogar Kunstwerke würden unter keinen Umständen von Eremiten hervorgebracht, sondern seien immer Gemeinschaftsproduktionen, denn Romane werden aus Romanen gemacht, Gedichte aus Gedichten, oder wissenschaftliche Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Im Zentrum der Überlegungen von Eagleman und Brandt stehen allerdings die grundlegenden Operationen aller Arten der Kreativität: das Biegen, das Brechen und das Verbinden. Unter Biegen verstehen die Autoren das Abwandeln der Form eines Objekts – so gibt es neuerdings Regenschirme, die sich von innen nach außen öffnen oder die asymmetrisch gebaut sind, damit sie starkem Wind besser standhalten. Brechen meint, eine Objekt zu zerlegen und seine Bestandteile dann anders zusammenfügen – Beispiele hierfür sind die kubistische Malerei oder die gesamte digitale Technik. Und Verbinden heißt, durch Kombination mehrerer Objekte etwas Neuartiges zu erzeugen – so gibt es Ziegen, die gentechnisch so verändert worden sind, dass sie in ihrer Milch Spinnenseide produzieren.
Wie lässt sich das kreative Denken in Schulen, Universitäten und Unternehmen fördern? Auch hierzu haben Eagleman und Brandt einiges zu sagen. Es genügt nicht – behaupten sie – sich Wissen bloß anzueignen, denn auch Wissensstoffe müsste man biegen, brechen und miteinander verknüpfen – und das würde man in erster Linie dadurch lernen, wenn man sich von Anfang an intensiv mit den Schönen Künsten befasste. Unternehmen seien umso innovativer, je mehr sie sich darauf einlassen würden, bei der Entwicklung neuer Produkte so viele Varianten wie nur möglich zu erproben.
Außerdem müssten überall solche Umgebungen geschaffen werden, die sich in Brutstätten der Kreativität verwandeln können. So wie das Gebäude 20 des Massachusetts Institute of Technology, ein während des II. Weltkriegs provisorisch zusammengenagelter Sperrholzbau, der nach wie vor mit Schiebefenstern und vorsintflutlichen Sanitäranlagen ausgestattet ist. Aber dafür lässt sich das Gebäude mit minimalem Aufwand beliebig umbauen – was es ermöglicht, dass sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zufällig kennenlernen und ihre Ideen austauschen können. Mittlerweile gilt dieser Ort als „magischer Brüter“, denn hier hat Chomsky seine Generative Transformationsgrammatik entwickelt, hier wurde das erste Videospiel erfunden, und hier revolutionierte Harold Edgerton die Hochgeschwindigkeitsfotografie.
Eagleman und Brandt prophezeien der Kreativität eine große Zukunft, denn die Vernetzung der Gehirne nehme ständig zu, es gebe immer mehr Material, das man biegen, brechen und miteinander verbinden könne, und das kreative Kapital der Unterschichten und der Frauen werde erst teilweise genutzt.
Was Eagleman und Brandt hier vorlegen, ist zwar keine neue Theorie der Kreativität. Man kann ihnen auch vorwerfen, gelegentlich zu übertreiben. So behaupten sie, dass die kreative Zerstörung vor nichts Halt machen würde und selbst die Unterscheidung zwischen hohen und tiefen Tönen keine Universalie, sondern eine erlernte Konvention sei. Doch diese Einwände fallen kaum ins Gewicht. Das Buch macht anhand etlicher verblüffender Fallbeispiele deutlich, auf welchen Verfahrensweisen Kreativität beruht und wie eng technische mit künstlerischen Innovationen zusammenhängen.
Nach Eagleman und Brandt benötigt kreatives Denken reichlich Input, und es lässt sich trainieren. Dies Buch ist ein sehr gutes Trainingsprogramm.

David Eagleman/Anthony Brandt: Kreativität. Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft, Siedler Verlag, München 2018, 288 Seiten, 25,00 Euro.