21. Jahrgang | Nummer 15 | 16. Juli 2018

Eigene Ernte

von Erhard Weinholz

Die große Zeit, die Kampfzeit unseres Kiezvereins ist wohl vorbei. Vor zehn Jahren sollte die Bibliothek hier im Bötzowviertel geschlossen werden, doch was anderswo in Berlin fast geräuschlos über die Bühne ging – ein paar Proteste, ein paar Tränen, Schluss –, misslang bei uns: Anwohner fanden sich zusammen, besetzten tagelang die Bibliotheksräume, gründeten den Verein und konnten schließlich den Betrieb ehrenamtlich fortführen. Es gab dann noch einen Schließungsversuch, auch den haben wir abgewehrt. Seit Jahresbeginn wird die Bibliothek nun wieder vom Bezirk betrieben. Endlich, denn die Helden von damals sind müde geworden: Für den neuen Vorstand finden sich keine Kandidaten, und die Schar der Aktivisten in den Arbeitsgruppen ist klein geworden. Auch ich bin fast nur noch als Nothelfer tätig: Am 1. Mai mache ich, wenn sich sonst niemand findet, an unserem Stand beim Buchverkauf mit, und jetzt habe ich mich, da andere Vereinsmitglieder auf Reisen waren, zwei Wochen lang um ein neueres Arbeitsfeld gekümmert, um eines der drei Hochbeete auf einem Spielplatz hier gleich um die Ecke.
Der Kenner nennt, was wir da treiben, Urban Gardening – und schon ist Berlin gleichauf mit dem rebellischen New York und seinen Stadtteilaktivisten, mit der Subkultur von Greenwich Village, wo Fat Freddies Kater haust. Man könnte aber auch einfach Stadtgärtnerei dazu sagen; die Menschheit rettet man mit solcher Beschäftigung zwar nicht, doch ist sie vergnüglich und lehrreich obendrein, manchmal fördert sie vielleicht gar den Zusammenhalt im Viertel. In Arbeit artet die Pflege zum Glück nicht aus: Einen guten Meter breit ist das Beet und nicht ganz fünf Meter lang.
Blickfang ist der Stachelbeerstrauch mit seinen gezackten dunkelgrünen Blättern; Zitadelle heißt die Sorte vielleicht, denn er hat die längsten Stacheln, die ich je an so einem Strauch gesehen habe. Mit den Beeren lässt er sich Zeit, eine einzige ist dieses Jahr gereift, aber die schmeckte vorzüglich. An den Enden des Beetes steht Lavendel; dort tummelten sich die Bienen, hin und wieder war auch ein Schmetterling zu sehen: weiß mit je zwei schwarzen Punkten links und rechts und schwarzen Flügelenden. Ein Kohlweißling also, wie ich in der Stadtbibliothek herausfand. Der Kohlweißling, so sage ich nun, ist auch ein schönes Tier. Das Lila des Lavendels ist inzwischen verschwunden; gelb blüht noch die Rauke, blühen die fünf Tomatensträucher, hier und da zeigen sich schon erste grüne Früchte. Erntereif sind die Bohnen, der Salbei mit seinen großen flauschigen Blättern, die hellgrüne Zitronenmelisse. Dazwischen streckt die Kresse ein paar große gelbrote Blüten in die Höhe und die Kornblume eine einzige knallblaue. Eine Frau aus unserem Verein, die mir auch viel über die lange Vorgeschichte dieses Beetes erzählt hat, kümmert sich fast täglich um den Bewuchs, kappt die wuchernden Erdbeerranken, stutzt Kräuterstauden, reißt Altes aus, sät und pflanzt Neues.
Ich selbst habe dem Beet in der kurzen Zeit meiner Regentschaft nur eines hinzugefügt: eine Vogelscheuche. Zu meiner Kinderzeit – doch das ist lange her – gab es noch manche Werkstatt, wo das wohlehrbare Handwerk des Scheuchenbauers ausgeübt wurde. Ja, wohlehrbar, denn Kaiser Leopold hatte ihnen das Zunftrecht verliehen, nachdem sie bei der Belagerung von Wien die Türken mit ihren phantastischen Figuren derart in Schrecken versetzt hatten, dass ihrem Oberfeldherren der Säbel aus der Hand gefallen war. Das Etwas, das ich auf unser Beet gestellt habe, ist allerdings nur die Andeutung einer Scheuche und wird wohl ebenso wenig Wirkung zeigen wie früher einmal jene blauen Zelluloidbänder, die mein Großvater in den Kirschbaum hängte, um die Stare fernzuhalten.
Ich hatte das Beet natürlich nicht in Obhut genommen, nur um mich an den Schmetterlingen und Blüten zu erfreuen und eine Handvoll grüner Bohnen zu ernten. Gärtnern heißt vor allem gießen, und gießen wiederum heißt pumpen. In Berlin gehört die Pumpe noch zum Stadtbild, auch gleich neben dem Spielplatz steht eine, keine langen Wege also, doch das Pumpen selbst ist ein anstrengendes Geschäft. Zwei Mädchen wollten Wasser holen, heißt es im Text zu einem Fingerspiel, zwei Knaben wollten pumpen … Ob sie es wirklich wollten, möchte ich bezweifeln – wahrscheinlich mussten sie es. Zudem hat diese Pumpe hier einen Riss in der Umkleidung, so dass ein Teil des mühsam geförderten Wassers aufs Pflaster und nicht in die Kanne fließt.
Doch wie nennt man diese Umkleidung: Pumpensäule? Pumpenhülle? Und wie funktioniert das Ganze überhaupt? Der große Brockhaus aus dem Jahre 1908 ließ mich bei diesen Fragen im Stich. Auch mein 1959 in Leipzig erschienenes Bildwörterbuch geht nicht immer hinreichend ins Detail: Auf dem Tableau Parteischulung zum Beispiel sieht man den Dozenten, das Rednerpult, die Wandtafel – wo aber ist der alte Dogmatiker mit dem Nussknackergesicht? Der tückische Revisionist, der sich als stiller Gelehrter tarnt? Der Opportunist, der soeben ein Lippenbekenntnis zur führenden Rolle des Politbüros abgibt? Sie alle fehlen, und ebenso sind die einzelnen Pumpenteile dort nicht benannt. Wieder fuhr ich in die Stadtbibliothek in der Breiten Straße, durchblätterte reich illustrierte Gartenbücher, in einem war sogar etwas zur Geschichte der Vogelscheuche zu lesen, doch was ich eigentlich wissen wollte, habe ich erst im Internet gefunden.
Schön wäre es gewesen, wenn nun Kinder vorbeigekommen wären und mich, während ich so vor mich hin pumpte, gefragt hätten, was ich hier mache. Dann wäre ich, die volle Kanne in der Hand, mit ihnen zu unserem Beet gegangen und hätte erklärt, was dort wächst; ich hätte sie vom Basilikum kosten lassen und ihnen gezeigt, wie die Bohnen sich im Grün verstecken. Und wenn jemand besonders wissbegierig gewesen wäre und mich gefragt hätte, wie so eine Pumpe funktioniert, hätte ich auch das sagen können. Ich war aber immer schon vor Sieben dort, und zu so früher Stunde sind die Kinder in unserem Viertel noch nicht unterwegs.