von Ben Sternstein
Bereits zu Beginn der Ersten Republik, nach dem Zerfall der Habsburg-Monarchie, veranstaltete Wien in den 1920er Jahren musikalisch dominierte Festwochen. Bis anno 1930 der Stadt das Geld ausging. Erst nach dem Krieg gab es wieder alljährlich im Mai-Juni Wiener Festwochen, erstmals 1951. Es war ein grandioser Gipfel der Hochkultur unter Einschluss volksfesthafter Veranstaltungen in den Wiener Stadtbezirken. Internationale Stars und Spitzenensembles der Musikszene gaben Gastspiele neben den Auftritten der hauseigenen Koryphäen wie Philharmoniker, Staatsoper, Burgtheater. Man wollte aller Welt beweisen, dass die „Hauptstadt der Musik“ trotz „Zerstörung und Besatzung“ ihre Identität wiedergefunden hatte; das erhabene Motto: Unsterbliches Wien. Die Presse schwärmte von einem „Evangelium der Kultur“.
Das hat sich mit den Festwochen-Jahrzehnten gründlich geändert. Seit vielen Jahren schon wurden die musikalischen Kult-Events von Weltniveau zurückgedrängt zugunsten großer Schauspielproduktionen. Zuletzt jedoch dominierte nicht mehr das hochkarätig klassische Sprechtheater mit den Regiestars des deutschsprachigen und auch internationalen Betriebs, sondern weltweit gecastete, eher kleinformatige „Projekte“. Man wollte „modern“ sein, gern auch ein bisschen anti-bürgerlich, dazu natürlich prononciert global und politisch und überhaupt gegen alles, was nach Staatstheater klingt. Das war teils „interessant“, in Einzelfällen auch stark, doch insgesamt längst nicht mehr so populär und strahlkräftig wie einst. Die Festwochen verkleinerten sich zunehmend zu einem Spartenprogramm für eher an besonderen Formen und Inhalten speziell Interessierte. Ein Happening mit dem längst verblassten Stempel Avantgarde für Politniks, Alternativies, Freaks.
Im Jahrgang 2017 führte das unter der für Aufschwung sorgen sollenden neuen Leitung von Tomas Zierhofer-Kin erst recht zum Desaster hinsichtlich der künstlerischen Qualität sowie des Kartenverkaufs. Der 49 Jahre alte umtriebige Kulturmanager und bisherige Chef eines regionalen österreichischen Kunstfestivals mit – offen eingestanden – wenig Lust auf so genannte repräsentative Hochkultur sowie „keinem Interesse“ selbst an „halbwegs klassischem Sprechtheater“. Die Kulturpolitik hätte also wissen können, wie dieser Mann tickt; ignorierte es aber, wohl aufgrund eines oberflächlich verstandenen Avantgarde-Begriffs. Doch die meint ja naiverweise gern noch immer, wenn sie auf Werbe-Etiketten wie „mutig“, „angesagt“, „radikal“, „progressiv“ oder „provokativ“ setzt, macht sie alles richtig. Denkste!
Und prompt sprach dann die Kritik auch anno 2017 von sektiererischen, postkolonialistischen und gendertheoretischen Diskursdemonstrationen. Ärger in den Politbüros! Daraufhin tauschte Direktor Zierhofer-Kin (gezwungenermaßen) zwei seiner Kuratoren aus und versprach vollmundig Besserung. Demnächst also keine programmatischen Ankündigungen mehr wie die „Heterotopie postidentitärer Wirklichkeiten“ oder „ontologischer Terrorismus kontra Heteroterrorismus verbunden mit queerer ekstatischer Widerstandspraxis“. Vielmehr erklärte er vielversprechend und zurückrudernd: „Die Festwochen 2018 wollen sich weder anmaßen, die Welt zu verstehen, noch, sie zu erklären; wir vertrauen auf die Kraft der Kunst.“
Doch dieses Vertrauen wurde wiederum arg enttäuscht, so das abschließende Urteil des überwiegenden Teils der professionellen Kritik einschließlich ihrer ansonsten notorisch wohlwollenden Sparte. Und auch das Publikum war sauer; abgesehen von kleinen Lichtblicken in der Fülle des performativ-diskursiven Überangebots aus aller Welt.
Also auch in diesem Jahrgang doch wieder das gut gemeinte, zwar diversen Moden wie dem Zeitgeist entsprechende, doch halt nicht festivaltaugliche, massenhafte Klein-Klein. Das offensichtlich engagiert wurde nach womöglich auffälligen thematischen und formalen Zugängen dieser – so die Medien – modischen Produktionen. Deren Botschaft wurde von den Programmmachern hochmütig und womöglich gar weltfremd als unmittelbar relevant erachtet. Was für ein fataler Irrtum!
Der Großteil der interessierten Öffentlichkeit empfand die einst so ruhmreichen Festwochen nunmehr nur noch als „Abwurfstelle“ für längst nicht mehr neue Arbeiten von politisch und sozial korrekt engagierten Kunstgewerblern. Also propagandistisch getönte oder spektakulär zugespitze Posen statt kraftvoll packende Kunst.
So zog denn jetzt die verantwortliche Kulturpolitik endlich die Reißleine und kündigte Tomas Zierhofer-Kin „konsensual“ mit sofortiger Wirkung den Vertrag, der eigentlich noch für drei weitere Saisons gelten sollte. Er habe zwar in einzelnen Fällen Gutes geleistet, ansonsten aber allgemein danebengegriffen. Der Geschasste gab sich einigermaßen einsichtig und gestand, das Publikum verprellt zu haben; zumindest die schlagende Mehrheit, die immerhin ein Programm auf internationalem Festspielniveau erwartete. Nun beginnt die schwierige Suche nach einer neuen Direktion, die – ohne ihre Zeitgenossenschaft zu vernachlässigen – das traditionsreiche Wiener Vielsparten-Kunstfest mit vergleichsweise extrem üppigem 12,5-Millionen-Etat wieder in die internationale A-Liga spielt und dabei auch seine gloriose Vergangenheit nicht gänzlich ausblendet. Also wenigstens ein bisschen so was wie „Evangelium der Kunst“ dürfte schon sein …
Doch damit wird’s wohl nichts; zumindest nicht im kommenden Jahr. Soeben hat nämlich die Wiener Kulturpolitik den 51-jährigen Belgier Christoph Slagmuylder als temporären Ersatz für Zierhofer-Kin engagiert – als Chef der Festwochen 2019. Für die Jahre danach sucht gegenwärtig eine Findungskommission; man darf sich bewerben…
Slagmuylder leitet bereits seit 2007 das Brüsseler „Kunstenfestivaldesarts“, bei dem die Bühnenkunst die Grenzen zwischen Sprechtheater, Tanz und bildender Kunst aufhebt. Der Mann, ein weltläufiger Kurator, gilt als „Spezialist für Gegenwartstheater, zeitgenössische Kunst sowie visuelle Theorie“ und erinnert uns Berliner ein bisschen an den gescheiterten Volksbühnen-Intendanten Chris Dercon. Man darf annehmen, dass auch Slagmuylder wenig Sinn hat etwa für nostalgisch-romantische Sehnsüchte nach Festwochen mit einem Hauch von Evangelium. Mit ihm kommt das Wiener Großfestival anno 2019 womöglich vom Regen in die Traufe.
Schlagwörter: Ben Sternstein, Wiener Festwochen