21. Jahrgang | Nummer 14 | 2. Juli 2018

Die Brücke

von Renate Hoffmann

In Avignon an der Rhone steht sie, verfügt über zwei amtlich beglaubigte Namen, besitzt ihr eigenes Lied, das in der Wortwahl falsch gesungen wird, galt nach der Erbauung als die längste Brücke Europas und trägt nun das Siegel des UNESCO-Weltkulturerbes. Vom vergangenen Ruhm blieben ihr nur noch vier Bögen, und doch überspannte sie vormals in einer Länge von etwa 915 Metern und 22 Bögen zwei Flussarme und eine Insel. Pont d’Avignon, auch Pont Saint Bénézet benannt. Respektvoll betrachte ich den Rest des architektonischen Wunders, dessen elegante Bögen sich über einen Teil des östlichen Rhonearms schwingen. Nunmehr enden sie im Nichts, beziehungsweise im Wasser.
Der Brückenbau begann im Jahre 1177. Und damit auch die Legende. Eines darin gilt als verbürgt. Die Sonnenfinsternis. Sie ereignete sich in diesem Zeitraum. Das Übrige erzählt eine reich ausgeschmückte Geschichte in verschiedenen Variationen. Eine davon wähle ich aus. Bénézet, ein junger Hirte aus der Region Ardèche, vernahm während der Sonnenfinsternis eine göttliche Stimme. Sie beauftragte ihn, nach Avignon zu gehen und dort eine Brücke über den Rhone-Fluss zu bauen. Eine Mammut-Aufgabe. Aber Visionen verleihen eben überirdische Kräfte. Bénézet macht sich auf den Weg, von einem Schutzengel begleitet. Dieser führt ihn sicher nach Avignon und vor den Klerus. Bischof und Richter halten den jungen Mann für einen Phantasten und die himmlische Botschaft für leeres Gaukelspiel. Man gewährt ihm, sich einer Probe zu unterziehen – die er nach irdischem Ermessen nicht hätte bestehen können! Er sollte einen übermächtigen Steinblock, den 30 Männer kaum bewegen konnten, von seinem Standort schieben. Aber da stellten sich die überirdischen Kräfte ein. Bénézet holte tief Luft, schickte ein Stoßgebet nach oben, schulterte „mühelos“ den Stein und trug ihn zum Fluss hinunter. Das war sozusagen die Brückengrundsteinlegung.
Man belächelte, ja verspottete den Hirten. Bénézet beharrte jedoch auf seiner göttlichen Eingebung und ging ans Werk. Die Stadtbewohner staunten; aus Spott wurden Zustimmung und letztlich Begeisterung. – Hier nun trifft sich die Legende mit einer realistischen Aussage. Es habe nämlich ein wohlhabender Adeliger aus der Umgebung ein Stück Land außerhalb der Stadtmauer erworben und ein Hospiz für Reisende, Arme und Pilger errichtet. Die Fratres Pontis (Brückenbrüder), eine caritative Gemeinschaft, sorgten für die Betreuung. Ihnen oblag auch die Aufsicht über Bau und Instandhaltung der Brücke. 1185 stand das Meisterwerk.
Es beginnt in der Nähe des hohen Domfelsens. Der verkehrsreiche Boulevard Quai de la Ligne läuft unter dem ersten, dem „Landbogen“ hindurch. Ich habe Mühe, die Straße zu überqueren. Die drei übrigen harmonisch ausgewogenen Bögen weisen zur Ĭle de la Barthelasse, Frankreichs größter Flussinsel, hinüber. Ursprünglich zog die vielbogige Architektur in kühner Höhe über sie hinweg, überbrückte den westlichen Rhone-Arm und endete am Turm Philippe le Bel. Man fragt sich, wie dieser Brückenschlag über Wasser, Sumpf und Land gelingen konnte.
Der ungebärdige Fluss und kriegerische Auseinandersetzungen richten am Bauwerk schwere Schäden an. Zerstörung und Wiederaufbau  wechseln. Über das weitere Vorgehen soll endlich ein sachkundiges Machtwort entscheiden. Sébastien de Vauban (1633–1707), hochdotierter Architekt und Ingenieur in Diensten König Ludwigs XIV, spricht es im Jahr 1696: „Diese Brücke ist keineswegs geeignet, um Karren oder große Bürden hinüber zu bringen …“ Aus und vorbei.
Nun verfällt le Pont d’Avignon bis auf die verbleibenden vier Bögen und eine Kapelle, geweiht dem heiligen Nikolaus von Myra. Geschützt durch ihn und die Parameter des Weltkulturerbes, wird der Brückenrest wohl vorerst Bestand haben.
In der Rue Victor Hugo spielt ein Mann Akkordeon und singt mit kräftiger Stimme die Stadthymne: „Sur le pont d’Avignon, / On y danse, / On y danse, / Sur le pont d’Avignon / On y danse tous en rond. / Les beaux messieurs font comme ça / Et puis encore comme ça. / Sur le pont d’Avignon / On y danse tous en rond.“ In weiteren Strophen tanzen hübsche Damen, die Offiziere, Kinder, gute Freunde, Musikanten … An der Ecke zur Rue St. Thomas höre ich noch, dass sich auch Wäscherinnen und Äbte im Kreise drehen.
Es ist ein altes Volkslied, dessen eingängige Melodie geträllert und gepfiffen wurde und sich zunehmender Beliebtheit erfreute. Der französische Komponist Adolphe Adam (1803-1856) nahm es in eine seiner Opern auf, mitsamt dem Textfehler, der sich inzwischen eingeschlichen hatte. Die Örtlichkeit des Tanzvergnügens auf (sur) der Brücke weckt nämlich Zweifel. Wie soll auf dem schmalen Übergang, der, so vermutet man, ohne Brüstungsmauern war, die Farandole, ein provenzalischer Reigen getanzt werden? Dazu fassen sich alle an den Händen. Einer führt an, die Anderen folgen ihm nach. Die Stimmung wächst. Der Erste fällt ins Wasser. Die Anderen auch. – Getanzt wurde unter (sous) den Brückenbögen. Wahrscheinlich auf der Insel Barthelasse. Dort gab es Wirtshäuser und Buden und Jahrmärkte.
Ich steige die Stufen zur Brücke hinauf. Ein luftiger Steg führt zur Einlasspforte. Schritte über geschichtsträchtige Steine. Der Turm Philipp des Schönen ist zu sehen, die Flussinsel, Papstpalast, Teile der Stadtmauer und das überquellende Grün der päpstlichen Gärten … Tanzen werde ich nicht, aber das Brückenlied singen. Hier oben? Wo es doch „unten“ meint? Umkehr. Hinunter zum Boulevard. Mit Bedacht und der Wichtigkeit einer sprachlichen Korrektur bewusst, gehe ich durch den „Landbogen“ der Brücke Saint Bénézet und singe laut und nachdrücklich: „ Sous le pont d’Avignon, / On y danse, / On y danse …“, in mehrfacher Wiederholung. Der Eindringlichkeit wegen!