von Gertraude Clemenz-Kirsch
Ein Berg der Musen soll es gewesen sein, der dem Quartier im 17. Jahrhundert den Namen gab und wo sich die Studenten des nahe gelegenen Universitätsviertels – des Quartier Latin – versammelten, um ihre neueste Lyrik vorzustellen. Der malerische Rundblick auf die Olivenhaine, wie vom griechischen Parnass herab, fehlte hier allerdings, da der prosaische Berg lediglich ein Schutthügel war. Ursprung dieser Anhäufung von Schutt und Kalkstein waren die nahen Steinbrüche. Den weißen Kalkstein benötigte man zum Bau der Paläste und Häuser, die entstehenden Höhlen aber, die Katakomben, waren ein willkommen, um darin die Gebeine des 1780 auf Geheiß des Pariser Polizeidirektors geschlossenen Cimetière des Innocents aufzustapeln. Ein bestialischer Gestank war dem alten Friedhof entströmt, und da sich die Buden des Pariser Marktes schon auf das Terrain des Geländes auszubreiten drohten, musste Abhilfe geschaffen werden. Noch heute kann man am Ort des ewigen Todes, den Katakomben, drei Stunden lang Schädel und Knochen der Einstigen besichtigen.
Das ländliche Viertel wurde bald zu einem beliebten Ausflugsziel der Städter, zumal um 1840 die Compagnie du Chemin de Fer de Paris einen kleinen Bahnhof errichtete, der an der Stelle des heutigen riesigen Gare Montparnasse stand. Die größere Verlockung für die Pariser war jedoch wohl der billigere Wein, denn alles spielte sich jenseits der Zollmauer ab.
Allerdings waren die Nächte in diesem populären Viertel beileibe nicht sicher. Eric Hazan („Die Erfindung von Paris“) beruft sich auf André Salmon: „Bedauerlich, aber sehr wohl bekannt war, dass die unbebauten Flächen, wenn die Nacht einbrach und die Kinder im Bett lagen, den geheimen Machenschaften finsterer Gauner Schutz boten […] Nächtliche Angriffe waren nicht alltäglich im Herzen von Montparnasse, doch an seinen Grenzen, im Außenbereich des Bahnhofs und besonders unter der Eisenbahnbrücke waren sie häufig genug. Entlang des Boulevards Edgar-Quinet, an der Friedhofsmauer, war es ein Leichtes, Leute umzubringen. Wehe den Nachtschwärmern!“ Hinter der hohen Mauer des Boulevards war 1824 der riesige Cimetière Montparnasse als Südfriedhof von Paris angelegt worden.
Selbstverständlich gehörten Studenten zu den Nachtschwärmern. In der Grande-Chaumière, dem ältesten Ballsaal des Viertels, trafen sie sich, um der Quadrille und manch anderem Tanz zu frönen. Im Handbuch für die Pariser Polizei von 1831 ist vermerkt, dass die Polizisten, denen die Überwachung der Bälle oblag, darauf zu achten hätten, dass keiner der unanständigen Tänze wie Chahut und Can-Can aufgeführt wurde.
Die Zeit der Grande-Chaumière ging 1847 zu Ende, doch neue Ballsäle und Caféhäuser schossen aus dem Boden. Bald wurden auch entlang der Boulevards du Montparnasse und Raspail moderne große Häuser mit Mietwohnungen errichtet. Schon Ludwig XIV. wollte seine Boulevards haben, und Haussmann verwirklichte später den großen Durchbruch des Boulevard de Raspail. Einige der alten Häuschen aber blieben erhalten, woran auch der Bildhauer Alfred Boucher einen gewissen Anteil hatte. Boucher, den die jungen Künstler liebevoll Père Boucher nannte, rettete die hinfälligen Gebäude, indem er das Gelände von der Stadt kaufte und die verfallenen Büdchen als billige Ateliers für Künstler herrichten ließ. So kaufte er auch den kuriosen Eiffelschen Weinpavillon der Weltausstellung Paris 1900 und ließ in seinem Inneren kleine Ateliers einrichten. La Ruche, der Bienenstock, wie man das Gebäude nannte, besaß wie das Bateau-Lavoir auf dem Montmartre weder Licht noch einen Wasserhahn. Es ist ein runder Bau, um dessen enge Wendeltreppe herum achtzig Ateliers angeordnet sind. Das Erdgeschoss bekamen die Bildhauer, weil sie bei ihrer Arbeit mit schwerem Material gelegentlich die Böden stärker belasten. In den höheren Etagen wirkten die Maler und Graveure. Wie eine Tarte aux pommes, ein runder Apfelkuchen, schraubten sich die winzigen Zimmerchen um die gewundene Holztreppe hinauf. Ihre Betten hatten die Bewohner über der Tür an der Decke angebracht, um genügend Platz zum Arbeiten frei zu haben.
Vor allem mit der Weltausstellung von 1889 hatte der Aufstieg des Viertels eingesetzt. Künstler aus aller Herren Länder, junge Leute aus Russland, Polen und vom Balkan, verbrachten hier die ersten Jahre während ihres Kunststudiums. Marc Chagall, Jacques Lipchitz, Chaim Soutine, Moise Kisling oder Ossip Zadkine hausten in den kleinen Zimmerchen und lebten von fast nichts. Noch heute ist das romantische Örtchen unter Künstlern hoch begehrt.
Der Dichter Guillaume Apollinaire stellte schon 1914 fest, dass Montparnasse die Rolle des Montmartre übernehme. „Vor einem etablierten Café in einem Haus mit anstößiger Geschichte (der Grande-Chaumière – G.C.-K.) haben sie einen gefürchteten Konkurrenten aufgestellt, das Café de la Rotonde.“ Häufig sei Max Jacob da, nicht nur um seinen Gedichtband „La Côte“ anzubieten und seine Zeichnungen zu verkaufen, sondern auch schrecklich zu sündigen. Bald, so Apollinaire, werde Montparnasse ebenso wie Montmartre seine Nachtclubs und Chansonniers haben, wie es bereits seine Maler und Dichter habe. Er wette darauf, ohne es zu wünschen. Und an dem Tag, an dem ein Aristide Bruant das Viertel besungen haben wird, werde es um Montparnasse geschehen sein.
Aber keinesfalls ist es um das Viertel geschehen. Wenn wir heute den breiten Boulevard Montparnasse hinab flanieren und die noch immer bestehenden Cafés wie Le Dôme, La Closeries des Lilas, La Rotonde, Le Select und La Coupole besuchen, um ein Viertel Roten zu genießen, schwelgen wir in der Erinnerung an die Années folles, die verrückten Jahre, und denken an Apollinaire und Max Jacob, an Amedeo Modigliani und Pablo Picasso, an Simone Beauvoir und ihren Liebhaber Jean-Paul Sartre und an so viele mehr.
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