von Jerry Sommer
Im vergangenen Jahr führte Nordkorea seinen sechsten Atomtest durch. Und es erprobte etliche Raketen – darunter auch Typen, die eine interkontinentale Reichweite haben und selbst die USA erreichen könnten.
Experten sind sich ziemlich sicher, dass Pjöngjang inzwischen sowohl Kurz- als auch Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen bestücken kann. Diese könnten Südkorea und Japan erreichen. Unklar ist allerdings, ob Nordkorea schon in der Lage ist, Atomsprengköpfe auf seinen Interkontinentalraketen ans Ziel zu bringen. Denn die Hitze, die beim Wiedereintritt des Sprengkopfs in die Erdatmosphäre entsteht, erfordert besondere Schutzvorrichtungen, um ein Verglühen zu verhindern. Diese Technologie beherrscht Nordkorea nach Expertenansicht noch nicht.
Viele Fachleute gehen im Übrigen davon aus, dass das nordkoreanische Regime sein Atomwaffenprogramm als Abschreckung gegen befürchtete US-Angriffe betreibt. Der Münchener Raketenspezialist Robert Schmucker glaubt nicht, dass Nordkorea die USA nuklear angreifen würde: „Warum soll Nordkorea angreifen? Kim will leben. Er kann Amerika nicht bedrohen. Denn selbst wenn er eine leistungsfähige Nuklearwaffe rüberschickt, ist Amerika nicht am Boden, sondern Amerika schlägt zurück und dann ist Nordkorea – aber insbesondere er – erledigt.“
Die Behauptung Nordkoreas, es sei schon jetzt in der Lage, die USA mit Atomwaffen zu treffen, wenn es denn angegriffen würde, hält Schmucker für nicht glaubwürdig. Darüber hinaus geht der Experte davon aus, dass Pjöngjang die jüngst getesteten Raketen nicht selbstständig hergestellt hat: „Ich glaube nicht, dass Nordkorea komplizierte Sachen machen kann. Denn wir wissen: Sie sind auf anderen Sektoren auch sehr, sehr weit hinten, und da gibt‘s nichts Modernes. Da gibt es nur die einzige Erklärung: Die kriegen vieles oder alles von außen. Denn wir sehen nichts, was in irgendeiner Richtung für eine Entwicklung, eine Serienfertigung, spricht. Und zusätzlich sind diese Programme unendlich teuer Das Land hat auch nicht das Geld.“
Schmucker zieht daher über die technische Entwicklung des nordkoreanischen Raketenprogramms folgende Schlussfolgerung: Da viele der letzten Raketentypen quasi „aus dem Nichts“ gekommen seien, müssen ihre entscheidenden Teile oder gar die Raketen als Ganzes aus Russland oder China geliefert worden sein. Auch müsse die Federführung bei externen Experten liegen, da Nordkorea entsprechendes Know-how nicht besitze.
Andere Experten sind ebenfalls ziemlich sicher, dass die meisten nordkoreanischen Raketen sowjetischem Design entsprechen. Vor Ende des Kalten Krieges wurden Kurzstreckenraketen aus der Sowjetunion nach Nordkorea exportiert. Und nach der Auflösung der Sowjetunion waren die Exportkontrollen in Russland sehr lasch. Auch ist bekannt, dass damals einige Raketenexperten von den russischen Behörden an der Ausreise nach Nordkorea gehindert wurden. Trotzdem seien russische Experten in Nordkorea aktiv, vermutet der Physiker Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik: „Es kann ja durchaus sein, dass ganze Gruppen von Raketeningenieuren eingekauft worden sind und die entsprechenden Technologien zur Verfügung gestellt haben. Vom Design her werden hier tatsächlich Raketentypen verwendet, die schon mal auch an anderer Stelle entwickelt und auch möglicherweise auch getestet worden sind.“
Der Wissenschaftler Michael Elleman vom International Institute for Strategic Studies in London glaubt – ebenso Neuneck und Schmucker –, dass die Motoren der jüngst von Nordkorea getesteten Langstreckenraketen erst in den letzten zwei, drei Jahren nach Nordkorea gebracht worden sind. Elleman vermutet, dass es sich um alte sowjetische Raketenmotoren handelt, die noch im Herstellerwerk Juschnoje in der heutigen Ukraine gelagert waren. Dieses Unternehmen sei seit 2014 in wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Der US-Geheimdienst CIA hingegen ist – zumindest noch im August letzten Jahres – davon ausgegangen, dass Nordkorea selbst in der Lage sei, Raketenmotoren zu produzieren. So äußerte sich jedenfalls ein Geheimdienstmitarbeiter gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Ob Nordkorea die technologische Fähigkeit hat, neue Raketentypen selbst zu entwickeln, ist also strittig. Genaue Informationen gibt es nicht. Westliche Experten stützen ihre unterschiedlichen Vermutungen vor allem auf die Analyse von Foto- und Videoaufnahmen der Raketentests sowie auf die Auswertung von Satellitenbildern. Nordkorea hat allerdings schon vor Jahrzehnten eine eigene Raketenindustrie aufgebaut. 15.000 Menschen sollen dort beschäftigt sein. Im Unterschied zum deutschen Raketenspezialisten Schmucker hält der US-Raketenexperte David Wright von der Wissenschaftlerorganisation Union of Concerned Scientists die Nordkoreaner deshalb nicht für so hinterwäldlerisch: „Seit mindestens zehn Jahren hat Nordkorea Raketenspezialisten ausgebildet. Und sie haben computergesteuerte Maschinen angeschafft, die ihnen erlauben, auch komplizierte Motorenteile mit hoher Qualität herzustellen. Das haben wir ihnen noch vor Kurzem nicht zugetraut.“
Strittig ist schließlich, ob Raketen oder Raketenteilen mit Wissen und Billigung der russischen und chinesischen Regierung nach Nordkorea exportiert wurden oder ob kriminelle Netzwerke dafür verantwortlich sind. Schmucker sagt zwar, es gebe für Exporte von Raketentechnologie durch diese Regierungen keine Beweise. Aber zugleich spekuliert er über mögliche politische Interessen: „Es ist sicher für die Regierung in Russland oder in China nicht falsch, wenn Amerika damit beschäftigt ist. Denn die wissen: Es gibt keinen Krieg, Nordkorea wird Amerika nicht angreifen, denn das wäre Selbstmord. Aber es hält Amerika beschäftigt. Es kostet Geld, Truppen. Es ist eine billige Lösung, um Amerika auf Trab zu halten.“
Doch das Ziel von Russland und China sei ein völlig anderes, glaubt der Konfliktforscher Jim Walsh vom Massachusetts Institute of Technology: „Die wollen die USA nicht im Pazifik haben. Aber solange Nordkorea eine Gefahr für Südkorea und Japan darstellt, werden die USA noch mehr Truppen und Raketenabwehrsysteme dort stationieren – alles Dinge, die Russland und China hassen.“
Schmucker spekuliert nicht zuletzt, Russland und China würden möglicherweise heimlich Raketentests oder sogar Atomversuche mit eigenen Waffensystemen in Nordkorea durchführen. Für Neuneck sind solche Überlegungen nicht nachvollziehbar: „Ich kann nicht erkennen, dass man diese Systeme, die wir in Nordkorea sehen, tatsächlich auch demnächst in China oder in Russland sehen werden. Sie haben andere Typen und andere Möglichkeiten. Diesen Gedanken halte ich für abstrus, dass Nordkorea sozusagen als testing ground von Russland oder China verwendet wird.“
Wenn die nordkoreanischen Raketen tatsächlich aus Russland und China stammten, dann könnte eine Fortentwicklung des nordkoreanischen Programms durch stärkere Exportkontrollen behindert werden. Dafür müsste sich der Westen durch leise Hintergrunddiplomatie in Moskau und Peking einsetzen, sagt Robert Schmucker. Und: „Man muss vor allem versuchen, von der Konfrontation wegzukommen, die wir jetzt haben zwischen West und Ost.“
Unklar ist, über wie viele Raketen Pjöngjang bereits jetzt verfügt. Deshalb dürfe man den Konflikt um das nordkoreanische Atom- und Raketenprogramm nicht einfach ignorieren, warnen Experten.
Unabhängig von der Frage nach der Herkunft der nordkoreanischen Raketen muss nach Ansicht von Götz Neuneck eine diplomatische Lösung für die Krise gefunden werden. Das Tauwetter zwischen Nord- und Südkorea im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen sollte man dabei ausnutzen: „Man hat keine andere Möglichkeit als Nordkorea etwas anzubieten. Dazu muss man einen Back channel-Dialog oder auch einen offiziellen Dialog beginnen und dann überlegen, ob man die Lage stabilisieren kann.“ Zum Beispiel könnten die USA Nordkorea Sicherheitsgarantien anbieten, und man könnte vereinbaren, dass Pjöngjang Raketen- und Atomtests aussetzt. Im Gegenzug müssten die Militärmanöver der USA in Südkorea eingestellt oder zumindest begrenzt werden.
Doch es ist sehr zweifelhaft, dass US-Präsident Trump solche diplomatischen Angebote machen wird.
Der Artikel ist die leicht veränderte Version eines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 27.1.2018).
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