von Heino Bosselmann
Dass Lehrer einst vormittags Dienst und nachmittags frei hatten, ist vorbei. Längst sind sie Teil eines gesamtgesellschaftlichen Rettungs-, ja gar Heilungsprozesses in Gestalt der politisch als Segen empfundenen Ganztagsschule.
Während es draußen um wirtschaftliches Dauerwachstum, um Beschleunigung, Leistung und Effizienzsteigerung geht, wandelte sich die Schule längst zu einem durchweg sozialistischen Gegenentwurf: Hier, heißt es, wird keiner zurückgelassen; es gibt keine Diskriminierungen, ja kaum mehr überhaupt Unterscheidungen, und das gesamte System ist gerade nicht auf Hochleister ausgerichtet, sondern vielmehr auf die wachsende Zahl der aufgrund ihrer Schwächen zu fördernden Schüler.
Förderpläne und Fördervereinbarungen füllen daher die Aktenschränke der Lehrerzimmer. Da ja per se überhaupt jeder als Talent gilt, fehlt – im Gegensatz zu Dauerhilfestellungen für die Limitierten und Verhaltensauffälligen – die Förderung der echt Begabten fast völlig. So wie im Gesundheitssystem eigentlich nur der Kranke in die Verfahrens- und Wertschöpfungslogik passt, sind es im Bildungssystem eher die Schüler mit „emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen“, mit „intensivem Präventionsbedarf“, die „Lernbeeinträchtigten im mathematischen Bereich“ und die Vielzahl echter oder deklarierter Legastheniker, auf die mindestens die nichtgymnasiale Schule ausgerichtet ist, seitdem man es für richtig hielt, die pädagogisch hochbewährten und traditionsreichen Förderschulen auslaufen und durch die Idee der „Inklusion“ ersetzen zu lassen.
Was gut klingt, ist schwer zu realisieren: Binnendifferenzierung, individuelle Betreuung, didaktische Reduktion sind gefragt, mit dem Blick auf jene, die ganz früher Hilfsschüler, dann Sonderschüler und schließlich Förderschüler genannt wurden. Diskriminierender Sprachgebrauch, heißt es heute. Pauschal gilt die gute alte sonderpädagogische Betreuung, den Schwächeren Sicherheit und Geborgenheit vermittelnd, plötzlich als entwürdigender Ausschluss von der kulturellen Teilhabe, ja als eine Art Negativselektion, deren Ende von einer einschlägige UN-Konvention gefordert wird. – Und schwächere Schüler, die gibt es eigentlich nicht mehr. Mit den richtigen pädagogischen, also inklusionspädagogischen Methoden wird, nimmt die Politik an, endlich jedem sein Optimum möglich sein – und die Welt dadurch eine viel bessere.
Mittlerweile besuchen fast alle einstigen Förderschüler die Regelschulen und laufen dort unter einem bestimmten „Ticket“:
- „L“ für „Förderschwerpunkt Lernen“ (in drei Stufen) für früherer Förderschüler;
- „ESE“ für „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ für die einst Verhaltensauffälligen oder Verhaltensgestörten;
- „Limb“ für Lernschwierigkeiten im mathematischen Bereich und
- „LRS“ für die Legasthenie, die oft genug eher das Ergebnis eines immer fragwürdiger werdenden Muttersprachunterrichts ist.
Diesen Schülern wird versprochen, sie kämen in der Gemeinschaft der anderen nicht nur zurecht, sondern würden dort sogar viel erfolgreicher sein – gut aufgenommen, solidarisch mitgetragen, partnerschaftlich unterstützt. Nur sitzen sie dort in viel größeren Klassen und leiden wie alle anderen unter dem latenten Lehrermangel. Oftmals finden sie sich nicht integriert, sondern eher isoliert, da Mitschüler mit dem empfundenen Anderssein eben nicht immer so ethisch korrekt und pädagogisch professionell umzugehen wissen, wie die Lehrer es ihnen vorleben sollen.
Ein System das meint, allen „differenziert“ gerecht werden zu können, lässt letztlich allzu viele im Stich, so wie der Schule durchweg mehr zugemutet wird, als sie halten kann. Was in der Gesellschaft sozial und kulturell nicht stimmt, das soll sie gerecht einrichten. Damit ist sie schon von ihrer Ausstattung her meinst überfordert.
Wie sich spätestens in der beruflichen oder Hochschulbildung erweist, stellt die Schule schon lange ungedeckte Schecks aus. Kompensiert wird dies mit Phrasen und Bekenntnisformeln, die im bildungspolitisch wieder mal völlig durchideologisierten Schulsystem jeder mit- und nachzusprechen hat, möchte er sich nicht den Vorwurf einhandeln, ein reaktionäres Menschenbild zu vertreten. Die Vielzahl der derzeitigen halboffiziellen Sprachregelungen und Denkverbote gemahnt fatal an jenen Gedankentotalitarismus, der der DDR-Schule gern pauschal vorgeworfen wird – und wie damals legitimiert mit der Versicherung, das Allerbeste zu wollen, also per se Recht zu haben.
Innerhalb der den Produktions-, zumal den Eigentumsverhältnissen nach turbokapitalistischen Bundesrepublik gibt es seit langem einen sozialistischen Kontinent, den öffentlichen Dienst. In dessen Mitte wiederum soll ein Paradiesgärtlein gehegt werden, in dem die letzten Illusionen der Aufklärung und des Humanismus unter Glas gedeihen – die Schule, gekennzeichnet durch Gerechtigkeit, Demokratie und Erziehung zur Menschenwürde. Der Musterschüler darin ist nicht länger der Anstrengungs- und Leistungsbereite, sondern vielmehr der „L-Schüler“, also jener mit besonderen Schwierigkeiten im Lernen. Auf ihn nämlich richten sich die aufwendigsten Bemühungen. Der Kluge muss für sich selbst sorgen. Kommt er zudem aus einem kultivierten Elternhaus, gilt er eher als Nachweis vermeintlicher Bildungsungerechtigkeit, weil es im Gegensatz zu seinem Herkommen die „bildungsferne Herkunft“ gibt, mit der man aus sozialen Gründen benachteiligt sei – obwohl allen alles offensteht und absolut jeder durch Bildung aufsteigen kann, wenn er denn nur will.
Wer eigentlich ist für die soziale Ungleichheit verantwortlich? Wiederum die Schule! Heißt es. Sie allein hat für die große Gerechtigkeit zu sorgen, die es gesellschaftlich nie gegeben hat und hoffentlich so auch nie geben wird. Die Schule jedenfalls steht in der Pflicht, das Musterbeispiel menschlicher Utopie in sich zu verwirklichen. Sie soll das Treibhaus einer Gesellschaft darstellen, die sich immer gerechter träumen will, weil sie mit der Steigerung von Wachstum und Effizienz immer mehr Menschen zurücklassen muss, die sie nicht mehr braucht und die auf Discounter-Niveau durchalimentiert werden. Immer weniger hochprofessionelle Leistungsträger reichen offenbar aus, immer mehr Unterprivilegierte mit zu versorgen.
Woher aber dieser Rigorismus des Moralischen? Dazu sehr treffend Alexander Grau jüngst im Wiener Der Standard: „Die Moral wurde einfach aus dem Privaten ins Politische entsorgt, damit wurde zugleich das Politische moralisch. Insbesondere im Milieu der progressiven Linksliberalen ersetzte man die traditionelle Sittlichkeit durch einen abstrakten Humanismus, besser: Humanitarismus. Der hat einen erheblichen Vorteil: Seine moralischen Normen haben mit der persönlichen Lebensführung wenig zu tun. Er erlaubt es, hedonistisch und zugleich hoch moralisch zu leben, denn schließlich bin ich für Nachhaltigkeit, gegen Ausbeutung, für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung. Das kostet weder Mut noch persönliche Anstrengungen. Gerade deshalb ist es so reizvoll.“
Je rigoroser die Denkvorschriften, je modellierter die Vorstellung von einem wieder mal „neuen Menschen“ innerhalb des verordneten Moralismus, der ein Kontrast- oder Kompensationsbedürfnis zur neoliberal bestimmten Realität befriedigt, je illusionärer die Vorstellungen einer umfassenden Gerechtigkeit, umso mehr erfolgt eine antiliberale Zurichtung, umso erheblicher aber auch die Gefahr von Indoktrinierung. Die Prinzipien gleichen sich: Die Politik, also die regierende Macht, entwirft sich ein Bild vom Menschen und stellt exekutiv die Institutionen, das Recht und den Apparat mittels Sprachregelungen auf dieses Menschenbild ein, mit der Maßgabe, dass dies nicht mehr in Frage zu stellen ist. Politik ist letztlich immer Anthropologie.
Innerhalb des Betreuungsprogramms der Ganztagsschule mit zunehmendem Gesamtschulcharakter werden die Schüler weitgehend aus der Welt heraus und institutionell festgehalten. Die Lehrer allerdings auch. Gern bis 16.00 Uhr, noch lieber noch länger. Im Zustand dieser Internierung wird dann, heißt es, Demokratie geübt.
Nebenher: Wann eigentlich erledigen die Pädagogen ihre Vorbereitungen? Wann lesen sie? Sie sollten sich nicht nur „weiterbilden“, sondern viel besser wirklich weiter bilden.
Mit dieser Muße ist es für sie vorbei.
Gibt es noch den lesenden Lehrer? Hat er noch Zeit für F.A.Z., Süddeutsche Zeitung oder gar Die Zeit?
Man prüfe aufmerksam die Weiterbildungsangebote der im Zuge der Inklusion aufwendig neu geschaffenen Institute für Qualitätssicherung. Inhaltliches wird man kaum finden, geht es doch vorzugsweise um „Methoden“ und „Kompetenzen“. Dass beides ohne Inhalte und Substantielles bloße Worthülsen sind, scheint vergessen.
Schlagwörter: Ganztagsschule, Gesamtschule, Heino Bosselmann, Inklusion