von Ulrich Kaufmann
In der gediegenen „Weißen Reihe“ des Jenaer quartus Verlages sind „Erinnerungssplitter“ des Germanisten Bernd Leistner erschienen, keine ausschweifenden oder gar weihevollen Wissenschaftler-Memoiren also. Wie in seinen Monografien und den oft streitbaren Essays beweist sich Leistner, der 2011 auch Lyriker hervortrat, hier ebenso als Stilist hohen Ranges. Erstaunlich allein die zahlreichen Neologismen. Alle Variationen des Humors, der Ironie und Satire beherrscht er. Seine vier Jahrzehnte in der DDR beschreibt er ironisch-distanziert, an keiner Stelle herablassend oder vernichtend. Das Buch des Homme de lettres, welches durch Kay Voigtmanns witzige Radierung „Bibliovieh“ bereichert wird, spricht auch deshalb an, weil der Autor sich hier und da selbstironisch-kritisch sieht und uns keine geradlinige Erfolgsgeschichte auftischt. Dies beginnt bereits im Schülerinternat, als der Frischentflammte von einer „appetitlichen Mitinsassin“ erfahren muss, „doch nicht ihr Typ“ zu sein. Später liefert Leistner – im Rückblick auf seine Leipziger Studentenzeit – ein einprägsames Porträt des legendären Hans Mayer. Mit „großem Respekt und großer Dankbarkeit“ erinnert er sich. „Als seinen Schüler aber hat er mich nicht angenommen.“ Die eigene „Fürwitzigkeit“ und den Mut, in Diskussionen des Oberseminars mit „Aber“ einzusetzen, sieht der damalige Student als Ursachen dafür. An das Jahr 1960, den Beginn der „Werner-Holt-Welle“, erinnert sich der Autor: „Mayer sah sich zu einem en passant eingeschalteten Kurzkommentar bewogen. Nachdem er die beiden ersten Sätze des Romans aus dem Kopf zitiert hatte, sagte er: ‚Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, aber wir sind uns doch wohl einig, dass das keine Literatur ist.‘“
Die Schilderungen des kulturpolitisch umstrittenen Heinrich-Mann-Preisträgers von 1985 setzen mit der Eibenstocker Kindheit ein und klingen mit dem Rentnerdasein des vielreisenden Redners aus. Mitunter fragt sich der Leser, wann dieser umtriebige Weltreisende seine vielbeachten Bücher und Studien und Rezensionen zu Goethe, Bobrowski, Hacks und vielen anderen geschrieben hat. Denn zuallererst war Leistner Lehrer in Mittweida, Auslandsgermanist in Mazedonien, Dozent am Leipziger Becher-Institut für künftige Schriftsteller und zuletzt Hochschullehrer in Chemnitz.
Immerhin zwölf Jahre, von 1976 bis 1988, arbeitete Leistner als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar (im „VEB Goethe“, wie der Volksmund sagte). Im Zentrum des Buches erinnert er in fünf, eher sachlich gehaltenen Kapiteln an diese Zeit. Im Weimar der „Nach-Holtzhauer-Ära“, mit ihrem weihvollen Goethe-Schiller-Zentrismus, gehörte Bernd Leistner zu jenen, die einen dialektisch-erfrischenden Blick auf das Erbe (Schiller, Kleist unter anderem) wagten. Sein Goethe-Buch „Unruhe um einen Klassiker“ von 1978 steht für diese Entwicklung.
Mancher mag sich fragen, ob „Erinnerungssplitter“ eines Germanisten nicht zuallererst Lektüre für Fachkollegen seien. Leistner holt indessen als Vielreisender die Welt in seinen Text, und er versteht es, während der häufigen Zugfahrten durch sein Ländle, dem Volk aufs Maul zu schauen. Probleme und Fehlentwicklungen in der DDR werden so fast „nebenbei“ zur Sprache gebracht. Pädagogische Probleme vor und nach dem Umbruch werden ebenso artikuliert. Der Autor war 1970, zu Zeiten Margot Honeckers, als Redner zum hochangebunden Pädagogischen Kongress nach Berlin geladen. Begeistert sprach der junge Lehrer aus der Provinz zur Behandlung von Kants „Aula“ im Deutschunterricht. Zu seiner Verwunderung war der Beifall in seinem Rücken, wo die Großkopfeten im Präsidium thronten, „matt“ ausgefallen. Die Delegierten hingegen reagierten auf das erfrischend Dargebotene positiv. Leistner hatte in Mittweida nicht mitbekommen, dass Hermann Kant – wegen eines Interviews im Westen – augenblicklich „ der Obrigkeitsgunst verlustig“ gegangen war.
Bernd Leistner: Im Lauf der Zeiten – Erinnerungssplitter. quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2017, 200 Seiten, 14,90 Euro.
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