von Ulrich Busch
1516 erschien Thomas Morus’ Schrift „Utopia“ – ein Werk von wahrhaft epochaler Bedeutung, das für die Weltsicht und Zukunftserwartung der Menschheit, für das Entwerfen gesellschaftlicher Alternativen und Visionen für Jahrhunderte richtungsweisend sein sollte. Das diesem Anlass 2016 gewidmete 500. Jubiläum verlief demgegenüber bemerkenswert unspektakulär. Kaum jemand interessierte sich noch für Morus’ Ideen und dessen Entwurf einer humanen und fortschrittlichen Zukunftsvision. Nicht viel besser erging es 2017 Martin Luther, als dessen zukunftsweisendes Reformwerk auf ein halbes Jahrtausend zurückblicken konnte, wofür sich aktuell aber ebenfalls weit weniger Interesse regte als offiziell erwartet worden war. Woran liegt’s? Was ist der Grund dafür, dass Utopien, die sich aus der Überzeugung speisen, dass es zum gegenwärtigen Gesellschaftszustand eine humane Alternative gibt, an Strahlkraft verlieren, während Dystopien und Retrotopien, worin destruktive Tendenzen zu negativen Visionen verdichtet beziehungsweise diffuse Zukunftsbilder aus der Vergangenheit entlehnt werden, Konjunktur haben?
Der weithin bekannte Philosoph und Soziologe Zygmunt Baumann (1925–2017) ist dieser Frage nachgegangen und hat dazu ein spannendes Buch vorgelegt: „Retrotopia“. Es ist das letzte abgeschlossene Werk des großen polnisch-britischen Gegenwartsanalytikers jüdischer Herkunft, der in seinem langen Leben mehr als 50 Bücher verfasst und die intellektuelle Szene des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt hat. Das Buch ist ein Alterswerk – weise, distanziert und tiefblickend. Aber auch nicht frei von Irritation, Angst und Resignation. Baumann sieht die kommunistischen Utopien seit Morus als „beerdigt“ an und konstatiert: „Wir haben keinen neuen Traum, durch den wir sie ersetzen könnten, weil wir uns keine bessere Welt als die vorstellen können, in der wir heute leben.“ So treten heute, 500 Jahre nach Morus’ Vision und deren Zurückweisung im Zuge einer dialektischen Negation, „Retrotopien“ an deren Stelle, das heißt Visionen, die sich aus einer „verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“ speisen. Die Folgen dieses Umschwungs, dieser Tendenzwende, sind auf allen Ebenen des sozialen Zusammenlebens spürbar: im Zeitgeist der Nostalgie, im weltanschaulichen Romantizismus, in den veränderten Lebensstrategien, die praktiziert werden. Vor allem aber in einer allgemeinen Rückwärtsorientierung der Politik. Der Autor unternimmt den Versuch, so etwas wie „ein Inventar“ dieser Umschwünge und Kehrtwenden zu erstellen, die mit dem Aufkommen retrotopischer Regungen und Praktiken verbunden sind. Dazu bedient er sich eingängiger Formeln zur Beschreibung der retrograden Veränderungen. Bei diesen rückwärts gerichteten Bewegungen, den vier großen „Zurück“, handelt es sich um „Hobbes“, das „Stammesfeuer“, die „soziale Ungleichheit“ und den „Mutterleib“.
„Hobbes“ steht für eine Welt ohne ordnende und kontrollierende Politik, eine individualisierte Welt des Krieges aller gegen alle. Baumann sieht uns auf dem Wege dorthin, in „eine Welt zunehmend schwindender Bindungen, der Deregulierung und Atomisierung politischer Strukturen, der Trennung von Politik und Macht“. Das „Zurück zum Stammesfeuer“ steht für die Kapitulation der Staaten vor den Herausforderungen der Zukunft. „Der Gedanke an die Zukunft löst heute Angst aus, da wir das Vertrauen an unsere kollektive Fähigkeit verloren haben, mögliche Exzesse zu verhindern und das Morgen weniger furchteinflößend und abstoßend und dafür ‚nutzerfreundlich‘ zu machen.“ So steht die Vision des „Fortschritts“ heutzutage nicht mehr für „sozialen Aufstieg“, sondern löst „Verlustängste“ aus. Die Folge ist ein Sich-Klammern an alte Gewissheiten und längst vergangene Stabilitäten. Die Rückkehr zur „sozialen Ungleichheit“ – wie sie von Thomas Piketty unübertroffen beschrieben worden ist – erscheint als ein Versagen der Politik gegenüber den Kräften der Globalisierung. Alle Errungenschaften des Fordismus und der Sozialen Marktwirtschaft sind in den letzten drei Jahrzehnten wieder rückgängig gemacht worden. Baumann zeichnet ein düsteres Bild des gegenwärtigen Kapitalismus – ohne Chance, dass sich die Schere zwischen „Arm“ und „Reich“, die sich immer weiter öffnet, jemals wieder schließen wird. Einziger möglicher Ausweg scheint ihm die Umsetzung einer „utopisch-schlaraffenartigen Idee“ zu sein, die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Die hierzu gemachten Ausführungen entbehren jedoch ökonomischer Einsicht. Es wird ein Geheimnis bleiben, ob sie von Altersweisheit und -weitsicht diktiert worden sind oder aber Ausdruck der sprichwörtlichen Abstinenz beziehungsweise Ignoranz des Soziologen gegenüber wirtschaftlichen Tatsachen und ökonomischen Zusammenhängen.
Im letzten Kapitel setzt sich der Autor mit dem Individualismus und Narzissmus unserer Tage auseinander. Er erblickt in der Ablösung des viel geschmähten Homo oeconomicus durch den Homo psychologicus, „das Endprodukt des bürgerlichen Individualismus“, eine typische Erscheinung der konsumistisch-narzisstischen Gesellschaft. In Rezeption umfangreicher Literaturquellen geht Baumann vielfältigen Tendenzen der Gegenwart nach, um seine Thesen von einer Hinwendung der Gesellschaft zu alten „Mustern“ und früheren Lebensformen und Ideen zu untermauern. „Wir leben in einer Epoche der Brüche und Diskrepanzen, einer Epoche, in der alles […] möglich ist, während man nichts oder so gut wie nichts – in der Gewissheit, es zu durchschauen, selbstbewusst angehen kann […].“ Die Folge ist eine „Atmosphäre des Unbehagens, der Verwirrung und Angst“. Die Reaktionen hierauf folgen alten, der Vergangenheit entlehnten Mustern von Desintegration, Abgrenzung, Konflikt und Krieg. Einzig richtig aber wäre, so die Botschaft des Autors, eine umfassende globale Integration ohne vorausgehende Separation. Davon aber ist die Menschheit im Zeitalter der Nostalgie national wie international weit entfern.
Zygmunt Baumann: Retrotopia, Edition Suhrkamp, Berlin 2017, 220 Seiten, 16,00 Euro.
Schlagwörter: Narzissmus, Retrotopia, soziale Ungleichheit, Thomas Morus, Ulrich Busch, Utopien, Zygmunt Baumann