von Werner Sohn
heben Sie unter keinen Umständen ihre Tasche in die Gepäckablage… Denn damit erregen Sie (als Mann) ihren Zorn, und es könnte sein, dass die gutgemeinte Aktion zu einer bissigen Erwähnung in einem Essay über den Zorn führt. In ihrem Buch „Zorn und Vergebung“ („Anger and Forgiveness“, 2016; deutsch 2017) wird die inkriminierte Flugzeugszene mehrfach durchdacht. Möglicherweise handelt es sich um eine Schlüsselszene, jedenfalls für die einflussreiche Philosophin Martha Nussbaum, die aus ihrer emotionalen Nichtbewältigung das philosophische Konzept „Zorn des Übergangs“ entwickelte. Der Zorn über eine unverschämte, aggressive, beleidigende, herabsetzende, ungerechte, verletzende oder sonst wie wirklich schädliche Behandlung der eigenen Person oder von anderen, mit denen man mitfühlt, entfalte sich eine Weile, möglichst aber nicht zu lange, und gehe dann in eine konstruktive, zukunftsorientierte Problembewältigung über. Wer wollte diesem Anliegen ernsthaft widersprechen? Gewiss kommt, wer sich als Philosoph in die Niederungen des Alltagslebens begibt, nicht ohne banale Feststellungen aus. Gerade dem globale Aufmerksamkeit suchenden Universitätsphilosophen, der von der „breiten Masse“ nicht viel hält, obliegt es aber, Trivialitäten zu minimieren oder zumindest mit einem gewissen sprachlichen Glanz zu umhüllen. Was soll man aber mit Sätzen wie diesen anfangen? „Die zwischenmenschlichen Beziehungen strotzen vor Problemen, die gelöst werden wollen. Um sie gut zu lösen, braucht es Empathie und Sinn für Humor.“ Kaum ein Angehöriger der „breiten Masse“ dürfte diese Binsenweisheit bezweifeln, mit der man sicher so manchen Lebensratgeber zusammenfassen könnte. Auch dass Institutionen „fair und unparteiisch“ sein sollten, gehört zu den vielen und wenig strittigen Forderungen, über die Nussbaum im Gestus des Bemerkenswerten doziert. Dieser Gestus mag daher rühren, dass die Texte wohl Vorlesungen entnommen sind und solche Sätze dem jungen amerikanischen Studenten das Gefühl geben, auch schon weitgehend so gedacht zu haben wie die berühmte Philosophin.
Neben dem unangenehmen Umstand, dass der Philosoph von heute nicht mehr originell sein kann, sollte ihn ein wenig bedrücken, dass er notwendigerweise in den Einzelwissenschaften dilettiert. Ein etablierter Universitätsphilosoph geniert sich nicht, dies einzugestehen. Auch Sokrates wusste ja wenig, eigentlich gar nichts, und trotzdem hat ihn Platon auf dieser Grundlage in Hochform gebracht. Bei Nussbaum spürt man von solcher Bedrückung nichts. Gewiss verfügt sie über intime Kenntnisse der „humanistischen Psychologie“ und des US-amerikanischen Strafrechts, doch ebenso munter und selbstbewusst bewegt sie sich in den politischen Wissenschaften und der Kriminologie. Wer hier nicht über ein zureichendes Wissen verfügt, wird die abgeschrittenen Irrwege freilich gar nicht erkennen. Allerdings kann sich auch ein kritischer Laie fragen, ob zum Beispiel immer mehr gestraft wird. So behauptet Nussbaum, „dass das Strafaufkommen in einer (!) Gesellschaft schlicht (!) wächst.“ Kein Wort darüber, wer diese „Nettoausweitung“ eigentlich wie gemessen hat. Dem Fachmann schließlich sollte bekannt sein, dass die US-amerikanischen Gefangenenquoten bereits seit einigen Jahren rückläufig waren, als das Zorn-Buch 2016 erschien. Nussbaum beklagt den „ungebrochenen Inhaftierungswahn“. Nun mag dieser sog. „Wahn“ trotz rückläufiger Gefangenenzahlen ja ungebrochen sein, dann aber doch auch in dem (von ihr) so hochgelobten „neuen Südafrika“ Nelson Mandelas und seiner Nachfolger. Mit dem klugen, großzügigen, den Zorn des Übergangs aus dem Effeff beherrschenden Mandela beschäftigen sich viele Seiten des Werkes. Es wird der kriminologisch bewanderten Philosophin doch nicht entgangen sein, dass das Land seit Jahrzehnten über Vergewaltigungs- und Mordraten verfügt, die in der Welt ihresgleichen suchen? Nicht zu wissen, warum, liefert keinen Grund, diese Tatsache zu ignorieren.
Aber: Dies ist ja keine Besprechung des Nussbaumschen Werkes! Dafür ist es zu vielschichtig. Das gilt ja nach Heidegger für alle modernen Philosophen. Wie gesagt, gibt es jedoch eine Schlüsselszene für die propagierte Philosophie der Zornlosigkeit, die weder in den politisch-zeitgeschichtlichen Dramen noch in den Gewaltverhältnissen ihres Heimatlandes gesucht werden muss: Ein großer Mann hebt der bedeutenden Philosophin, klein und zierlich, meist ohne zu fragen, oder er hebt zugleich mit der Frage, ob er es dürfe, ihre Tasche in die Gepäckablage! Männer „hassen“ es, meint sie, wenn ihnen dann „eine Frau ruhig mitteilt, dass dies keine gute Art ist, mit einem Koffer umzugehen, der einem nicht gehört.“ Allerdings mache dies die Sache meist schlimmer, verwickele einen (als Frau) „nur in weitere Gespräche mit diesen Menschen“. Unsere Philosophin hat sich daher kleine Lügengeschichten ausgedacht, um die unerwünschte Handlung zu verhindern. „… manchmal bin ich einen kurzen Augenblick richtig wütend und denke, dass man sie in die Schranken weisen müsste – doch dann steuere ich schnell auf den Übergang zu.“ Im Falle der Schlüsselszene mit einem deutschen Unfallchirurgen, der ihr, die sie tägliches Krafttraining betreibt, außerdem „in keiner guten körperlichen Verfassung“ zu sein schien, wieder einmal die Tasche in die Gepäckablage hievte, ist ihr das allerdings gründlich misslungen. Sie geriet nicht nur in Zorn, sondern es „brodelte“ noch zwei Wochen später in ihr! Für den Flug selbst gab es eine kleine Erleichterung, da der arrogante Deutsche nicht neben ihr Platz nehmen durfte und „von einem heiteren und amüsanten britischen Mann ersetzt wurde“. Später dachte sie sich „kleine Gespräche“ aus, in denen sie dem Übergriffigen, der „in der Tat perfektes Englisch sprach“, „in perfektem Deutsch“ eine sprachliche Kränkung zufügte. Auch in einem anderen Falle, als sie bei einer Sicherheitskontrolle an einem Flughafen – nein, nicht an einem, sondern am Frankfurter Flughafen – grob und ungehörig behandelt wurde, spürt sie „richtige Wut“ auf das Personal, die „deutschen Bevollmächtigten“, wie es in der Übersetzung heißt, obwohl sie ruhig und in ihrem „besten Deutsch“ die Kontrolleure anzusprechen gedachte. Man kann fragen, ob sich in den meisten Fällen solcher hochemotionalen Reaktionen überhaupt etwas über Gründe, Begründungen und Vorbeugung sagen lässt, wenn man die seelischen Konstellationen nicht kennt, aus denen heraus die Personen denken, fühlen und womöglich reagieren. Für sich selbst lässt die Philosophin nicht erkennen, was sie in ihre – eingestandenermaßen unverhältnismäßige – Wut hineinzieht. Ist es denn nicht das vernünftige Denken, die oberste Maxime der alten Griechen und die Panazee aller Stoiker, durch den der Wutschnaubende Abstand gewinnt?
Für die Philosophin, die kaum noch in die soziale Lage geraten dürfte, politische Strategien – wie ihre Favoriten Gandhi, King und Mandela – in der Praxis zu verfolgen, sind Szenen vor den Gepäckablagen von Flugzeugen entscheidend. Hic Rhodus! Hier muss sich für sie das Konzept der Zornlosigkeit bewähren. Seneca, den sie weidlich nutzt, hat dazu das Maßgebliche gesagt. Nussbaum paraphrasiert aus „De ira“: „Eine rational überlegende Person … lacht bald über sich und ihren Zorn und lässt ihn verrauchen.“ Wer weiß, worüber und wann er in Zorn gerät, kann durch geeignete Maßnahmen Vorsorge treffen. Von dem Stoiker Epiktet ist unter anderem die schlichte Feststellung überliefert, dass jede Sache zwei Henkel habe. An einem der beiden lasse sie sich tragen. Dies gilt in jedem Fall für Nussbaums Schlüsselszene. Im Sinne des strikten philosophischen Lügenverbots hätte Epiktet seiner späten Nachfolgerin die erfundenen Geschichten für deutsche Unfallchirurgen und andere Übergriffige ausgeredet. Stattdessen hätte er empfohlen, ihr Handgepäck konsequent und hart festzuhalten, bis sie es eigenhändig in der Gepäckablage platzieren konnte. Auch „die deutsche Gründlichkeit und Besessenheit“ eines aufdringlichen Passagiers hätte ihr dann – selbst am Frankfurter Flughafen – die Tasche nicht entreißen können.
Schlagwörter: Epiktet, Martha Nussbaum, Philosophie, Seneca, Stoiker, Werner Sohn, Zorn