von Gertraude Clemenz-Kirsch
Montmartre, welche Faszination! Ob Vergangenes oder Gegenwärtiges, noch immer wittert man hier den verblassten Charme vergangener Jahrhunderte. Aber was in Paris ist keine Faszination.
Man fährt mit der Metro bis zur Station Pigalle oder Anvers und bewältigt den steilen Aufstieg durch die engen Gassen, über Plätzchen und Treppen sowie die gewundene Rue Lepic entlang zu Fuß.
Also Montmartre: Mont heißt nichts anderes als Berg, erklärbar durch den Hügel über dem Seinetal. Martre hingegen ist abgeleitet von martyre, Märtyrer oder Martyrium. Im Mittelalter schon war der Berg ein Wallfahrtsort, der dem heiligen Dionysius gewidmet war. Die Legende spricht: Zur Zeit der Christenverfolgung wurden auch Bischöfe nach Frankreich ausgesandt, um dort die Heiden zu missionieren. Bischof Dionysius, den man in Frankreich Saint Denis nennt, bekam im Jahre 250 den Auftrag, in die Heidenstadt Lutetia – das spätere Paris – zu gehen, um die Ungläubigen zu bekehren. Der römische Präfekt bemerkte allerdings bald, was Dionysius vorhatte. Das ärgerte ihn. Er warf Dionysius ins Gefängnis und gebot ihm, dem Christentum abzuschwören. So könne er sein Leben retten. Dionysius aber blieb seinem Glauben treu, und so wurde er auf Anweisung des Präfekten hingerichtet. Bei der Enthauptung jedoch geschah ein Wunder. Der Greis bückte sich, hob das blutbeschmierte Haupt mit dem weißen Bart auf und trug es vor sich her bis zu einer Quelle am Nordhang des Hügels. Dort wusch er es, trug seinen Kopf dann noch weiter, ohne dass einer der vom Schrecken und von abergläubischer Scheu gelähmten römischen Soldaten ihn daran zu hindern wagte. Er soll seinen Kopf noch bis dorthin getragen haben, wo er hernach begraben wurde und sich heute die Basilika von Saint-Denis befindet.
Saint-Denis sollte man sich anschauen! Die Metro Linie 13 hält in unmittelbarer Nähe der wichtigsten Kirche Frankreichs. Ihre Geschichte lässt sich nicht von der Geschichte der französischen Monarchie trennen. Sie wurde der Ort der Salbung und Inthronisierung der Könige. Hier war es auch, wo Henri Quatre am 25. Juli 1593 vor dem Erzbischof niederkniete und seinem (hugenottischen) Glauben abschwor. Sein Kommentar dazu ging in die Annalen ein: „Paris ist eine Messe wert.“ Und hier wurden seit Hugues Capet auch alle französischen Könige außer Philippe I., Louis VII. und Louis XI. beigesetzt.
Von Saint-Denis aus zurück nach Montmartre. Bevor man dabei die großen Achsen der Stadt, den Boulevard Rochechuoart und den Boulevard Clichy, überquert, kurz ein paar Worte über die Straßenplanung und den Einfluss, den Georges-Eugène Baron Haussmann darauf im 19. Jahrhundert ausübte. Er war es, der als Präfekt Napoleons III. diese großen Boulevards durch die Stadt schlagen ließ, um dem zu eng gewordenen Paris und seinen Einwohnern breite Straßen mit Trottoirs und eine funktionierende Kanalisation zu geben. Und es gab noch einen uneingestandenen weiteren Grund für das Haussmannschen Urbanisationswerk: Auf breiten Korridoren konnten die Kanonen der Staatsgewalt gegen das Volk eingesetzt werden, das zuvor in seinen verschachtelten Gässchen unangreifbar gewesen war. Nicht zuletzt aber war es der große Traum Napoleons III. und seines Präfekten, die Stadt zu erweitern. So wurden durch ein Gesetz im Jahre 1859 die alten Zollmauern durch Boulevards – der Begriff stammt übrigens aus dem Deutschen und bedeutet nichts anderes als Bollwerk – ersetzt und umliegende Dörfer, darunter große Teile von Montmartre, nach Paris eingemeindet. Durch diesen Gewaltstreich verdoppelte sich die Fläche von Paris und die Einwohnerzahl stieg um 350.000 auf 1,6 Millionen.
Durch diese Erweiterung sah sich die Stadt gezwungen, die Arrondissements neu zu nummerieren. Der Wohnsitz der kaiserlichen Familie in den Tuilerien erhielt selbstverständlich die Eins, das Rathausviertel die Zwei. Von hier aus regierte der Präfekt Haussmann. In Form einer Schnecke winden sich dann die Arrondissements zum Stadtrand hin. Auch damals schon wurden die armen Schichten aus dem Zentrum gedrängt, comme d’habitude.
Doch zurück zum Montmartre: Auf ihm sowie über Paris insgesamt thront eine von den beiden unmöglichsten Ergänzungen des Stadtbildes, die Paris – immerhin ein Ort mit dem Stolz zweier Jahrtausende – zu seinen bekanntesten Wahrzeichen gemacht hat: die Kirche Sacré-Cœur. (Die andere unmöglichste Ergänzung – diese Apostrophierung geht auf den Pariskenner Stefan Troller zurück – ist der Eifelturm.)
Der Bau von Sacré-Cœur begann 1877, sozusagen als Antwort auf den verlorenen Krieg gegen Deutschland, in dem man einen Fingerzeig Gottes und Aufruf zur sittlichen Umkehr sah. Daher betrieb die Katholische Aktion nach 1871 die Errichtung einer Sühnekirche auf der höchsten Erhebung von Paris. Die Nationalversammlung genehmigte den Bau und die zu seiner Realisierung notwendigen Kollekten im Jahre 1873.
Über vierzig Jahre zogen sich die Bauarbeiten hin. Man musste die Fundamente tiefer legen als geplant, weil Bergwerksstollen den Hügel durchziehen. Dreiundachtzig Pfeiler hat man im Boden des Montmartre verankert. Mit ihrer blendend weißen Fassade ist die Kirche heute Wahrzeichen und Orientierungspunkt gleichermaßen. Aber sie ist auch, wie Hermann Schreiber meint, der offenkundigste Beweis für die künstlerische Dürftigkeit des neunzehnten Jahrhunderts im Kirchenbau und für das absolute Fehlen jeden schöpferischen Gedankens.
„Berg der fröhlichen Nonnen“ hieß der Hügel während der Zeit Henris IV. Der Grund waren die Weinberge, die von Nonnen bewirtschaftet wurden. Weinanbau am Montmartre gibt es auch heute, aber da die Winzer keine professionellen sind und nach dem Gesetz eigentlich auch gar kein Pflanzrecht haben, können sie ihren Wein regulär nicht verkaufen und stiften die 15,00 Euro pro Flasche der örtlichen Schule. Eintausendneunhundert Rebstöcke wurden seit 1933 auf dem Clos Montmartre neu angepflanzt … Das hat Paris vor allem Künstlern und Schriftstellern zu verdanken. 1924 beschlossen sie, das unbebaute, von der Grundstücksspekulation bedrohte Fleckchen zu besetzen und dort wieder Wein anzubauen. Aus ganz Frankreich trafen Weinstöcke ein. Und 1934 fand in Anwesenheit des französischen Präsidenten und der Weinbergpaten Mistinguett, die künstlerisch mit Josephine Baker konkurrierte und schon 1919 ihre Beine für die aberwitzige Summe von 500.000 Frans versichern ließ, sowie Fernandel, der Älteren mindestens in seiner Rolle als Don Camillo unvergesslich ist, die erste Weinlese statt.
La butte sacrée, der heilige Hügel, wird der Berg auch liebevoll von den Parisern genannt. Eine ländliche Idylle war er, aber gleichzeitig ein strategischer Ort, von dem aus man die ganze Stadt überschauen und gegebenenfalls beschießen konnte. Dort auf der Butte begann am 18. März 1871 der Aufstand der Kommunarden, der bis zum 18. Mai dauern sollte. Es war der erste Versuch der Arbeiter, sich gegen die alte Herrschaft zu behaupten. Doch blutig wurde er niedergeschlagen.
Wird fortgesetzt.
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