20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zwei Premieren und ein neuer Intendant im Berliner Ensemble sowie gelbe Bänke davor…

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Draußen vor der Tür als leuchtender Reinzieher ein stechend gelber Teppich. Drin glüht, im Neubarock von 1892, in hoher Herrlichkeit der blutrote Samtvorhang; von alters her im Theater Verlockung, Verheißung, Geheimnis, Zauber. Allein schon diese beiden Signalfarben sind Programm nicht nur am Eröffnungsabend der neuen Intendanz des Berliner Ensembles: Oliver Reese, Nachfolger von Claus Peymann, gefeiert als einer der erfolgreichsten Theater-Manager des Landes, will ein Theater für jedermann – Rot und Gelb als weithin Effekt machender, als spannungsgeladener Kontrast, das verstehen alle.
Reese will ein massenwirksam dramatisches Erzähl- und Schauspielertheater. Freilich nicht ohne maßvollen Einsatz neuer Formen und Spielweisen. Maßvoll, das meint hier die Absage ans Postdramatische, ans Auflösen der Stories bis hin ins Unverständliche, an deren Überwucherung mit vornehmlich nur noch Eingeweihten eingängigen Assoziationen. Schon der neue Chefdramaturg Bernd Stegemann steht für dieses gern als „konservativ“ verlachte Konzept. Weshalb er verdammt wird vom „gegnerischen Lager“ der Radikalinskis, die möglichst alle Guckkästen abreißen wollen, die allein das Postdramatisch-Performative zur Avantgarde, zur allgültigen Norm erheben und die groß- und einzigartige Herkunft des Theaters ignorieren.
Dennoch: Reese will keine Parität zwischen Klassik und Gegenwartsdramatik, sondern „deutlich mehr“ neue Stücke. Dafür engagierte er extra einen feinsinnigen Poeten, den geistreichen Berliner Dramatiker Moritz Rinke, der, immer mit der Lupe im Rucksack, vornehmlich in anglo-amerikanischen Gefilden unterwegs ist – das altbewährte, schwer zu machende well made play ist rar hierzulande.
Alles in allem: Wir dürfen am neuen BE einen das Publikum vernünftig herausfordernden, zugleich aber nicht platt bedienenden Konservatismus erwarten. Diverse Risiken werden durchaus einkalkuliert, allerdings ohne dabei vornehmlich auf die Beglückung einer feuilletonistischen Kennerschaft zu schielen.
Der 53-jährige Reese, ein jungenhaft hagerer Sportstyp, geboren in der nüchternen Provinz bei Paderborn, ist nicht neu in Berlin, wo er als Chefdramaturg existenzbedrohte Bühnen (Gorki- und Deutsches Theater) wieder auf Erfolgskurs brachte. 2009 ging er als Intendant nach Frankfurt am Main und erlöste dieses bedeutende Großstadttheater aus jahrelanger artifizieller Erstarrung; rückte das verkopfte, eher nur noch für Insider spielende Schauspiel (auch als Regisseur) wieder in den Mittelpunkt der Banken-Metropole. Das begeisterte nicht nur die Geldhändler, sondern die ganze Bürgerschaft. Die trauert jetzt ihrem – ja, doch! – geliebten Verflossenen heftig nach sowie seiner imaginären gelb-roten Farbenlehre, Sinnbild für den pragmatischen Mix aus Innovation und Tradition.
Erste Amtshandlung: Reese stellte auf den leeren BE-Vorplatz mit Fritz Cremers gedankenvollem Brecht-Denkmal gelb angestrichene Bänke – einladende Geste. Und er bestellte – fürsorgliche Geste – den Geomantiker Doktor Hartung aus Hannover. Der trieb, die magische Wünschelrute in heilenden Händen, dem Haus vermeintlich negative Energien aus. Seither, so ist zu hören, seien hier Kopfschmerzen wie weggeblasen. Schade allerdings: Die schneeweiß im Wind flatternden Peymannschen BE-Dachfahnen sind abgeschafft (man könnte ja jetzt gelbe hissen…). Und: Die Marmorbrunnen im Parkettfoyer tropfen nicht mehr. Doch das weltberühmte BE-Neon-Logo, roter Kreis mit weißem Schriftzug, das dreht sich seit 1954, als Brecht mit seinem „Kreidekreis“ auch als Regisseur hier einzog, gut geölt und unentwegt durch die wechselnden Zeiten.
Reeses Neuanfang machten zwei Klassiker der Moderne, durchweg mit Spitzenkräften der Schauspielkunst: Wahrlich ein super Ensemble, eine feine Mischung aus Berühmt und Jung, so teuer wie geschickt zusammengekauft oder vom Main mitgebracht. Es soll, was vielerorts vergessen ist, sein schlagend Herz sein, soll die Identität des Theaters stiften.

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Am Anfang Albert Camus’ Tyrannen-Stück „Caligula“, das der 25jährige Autor unter dem Eindruck Hitlers schrieb, aber rückblickend selbst „nicht gut“ fand. Der französische Jungspund parliert höchst eloquent über absolute Macht und Freiheit, Logik, Ethik sowie angesichts des Todes über die Absurdität jeden Lebens. „Die Menschen sterben und sind nicht glücklich“, heult der römische Kaiser Caligula, der seine Schwester und Geliebte an den Tod verlor und mithin all sein Glück. Prompt verfällt er in totalen Nihilismus, betrachtet fortan jedes Menschendasein als sinnlos, also überflüssig: Die Lizenz zum Töten für den Inhaber kaiserlich-absoluter Freiheit. Wofür er ein groteskes Mord-Regime installiert.
Dessen blutige Details interessieren den Regisseur Antu Romero Nunes vernünftigerweise wenig. Vielmehr inszeniert er eine Wortoper übers Menschen-Böse, das ausbricht, verrutscht der hauchdünne Firnis der Zivilisation. Constanze Becker als Caligula wandelt als bissiger Todesengel durch Nebelschwaden, windet genüsslich ihre faszinierend gefährlichen Rhetorik-Girlanden, pustet gelegentlich in ihre Blockflöte, schwingt auch mal eine Kettensäge, trällert eindrucksvoll den Hollaender-Dietrich-Hit „Wenn ich mir was wünschen könnte…“ Und besorgt gleichsam nebenher ihr destruktives Geschäft.
Als zum Finale alles tot da liegt: Vorhang runter. Doch noch kein Ende. Denn Becker-Caligula grinst keck unterm Saum hervor und flüstert: „Caligula ist nicht tot!“ – Klar, damit sind wir gemeint. Der Caligula, der in uns allen schlummert. Oder insgeheim tobt.

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Dann das andere vom Eröffnungs-Doppel: Bertolt Brechts im USA-Exil 1945 ertüfteltes, hintergründig antikapitalistisch politisierendes, vordergründig moralingesäuertes Hohelied der Humanitas „Der kaukasische Kreidekreis“; es avancierte, wer hätte es vermutet, zum Knaller des künstlerisch ansonsten ziemlich leisetreterischen Berliner Theaterherbstes.
Es ist die belehrende Mär von der bettelarmen Magd Grusche, die das Neugeborene ihrer reichen Herrschaft rettet, denn die warf es bei der Flucht vor revolutionären Kriegern als Störfaktor weg. Grusche fängt auf und bringt es trotz eigenen Elends durch. Diese wundersame Story koppelt Brecht an die durch gegenseitiges Heiratsversprechen bekräftigte Liebesgeschichte zwischen Grusche Vachnadze (Stefanie Reinsperger) und dem zum Kriegsdienst gezwungenen Simon Chachawa (Nico Holonies). Und bindet sie obendrein ein in das detailreich ausgepinselte Breitwandgemälde von den Schlachten um den menschheitlichen Fortschritt zwischen rotgardistisch-revolutionären und zaristisch-konterrevolutionären Truppen im (das ist gemeint) vorstalinistisch Kaukasischen.
Ursprünglich umfasste der Besetzungszettel reichlich hundert Figuren. Die Fassung von Chefdramaturg Stegemann, eine meisterliche Leistung, reduziert Personal und Schauplätze drastisch, kommt mit neun Schauspielern aus und macht es Regisseur Michael Thalheimer leicht, sich radikal zu konzentrieren auf Grusche. Auf das von Zweifel, Schuld und Schmerz beladene, tapfere Hochhalten ihrer Mütterlichkeit bei ständig lebensbedrohlichen Angriffen, die auch noch ihr Lebensliebe-Glück zerstören. – Allen unmenschlichen Gewalten trotzen, einfach, um der Menschlichkeit Willen! Um schutzlos bedrohtes Leben zu retten, obgleich man selbst bedroht und schutzlos ist. – Das ist, jenseits von Kapitalismus, proletarischem Umsturz, sozialistischem Lehrstück (interessiert Thalheimer nicht), ein archaisches Menschen-Thema, auf das allein sich die Regie konzentriert. Das ist – auch und vor allem! – Brecht.
Als später, nach Kriegsende, beim Gericht die leibliche Mutter in einem Kreis aus Kreide, der hier – sehr pässlich – aus Blut ist, ihr Kind von der Pflegemutter zurückfordert und ihr aus dem Arm ziehen will, überlässt Grusche es ihr aus Angst, es könnte zerrissen werden. Eine richterliche Probe der wahren Mütterlichkeit – Grusche wird das Kleine zugesprochen. Was für ein Sieg, tiefschwarz umrahmt. Denn: Kriegsheimkehrer Simon will keine solche Frau mit solchem Kind. Und wer hilft der elenden Grusche mit dem fragilen Glück im Arm weiter?
Thalheimer inszeniert im Dunkeln auf leerer Bühne. Die Akteure vorn an der Rampe im grellen Kegel von Licht; beiseite ein bänkelsängerischer Kommentator, im Hintergrund Kalle Kalima mit der E-Gitarre und dröhnendem Soundtrack – ein existenzialistischer Dauerschrei aus der Tiefe. Thalheimer wuchtet den Kern der Parabel suggestiv hoch als große Tragödie. Aus dem mäandernd Epischen wird strenger Expressionismus. Mit der einzigartigen Reinsperger im Gravitationszentrum einer aus den Fugen geratenen Welt. Gestisch sparsam und genau (Brecht!) sticht sie uns immerzu ins Herz, bohrt in unseren Seelen. Zum Erschrecken, zum Heulen das Naive, Angstvolle, Innige, Todesmutige dieses schwachen Mädchens mit den langen dicken Zöpfen, das zugleich ein starkes Weib ist. Schier übermenschlich stark. Und immerzu wie zerbrechlich.
Bei aller Klarheit der stringent, äußerst knapp erzählten Sachverhalte: Dieser unerhörte „Kreidekreis“ ist geradezu aufschreiendes Überwältigungstheater (kein Brecht?). Monumentales Pathos erfüllt von Gefühl, frei von Sentiment. Ein wahrhaftiges Kunst-Stück. Ganz groß. Mit der Reinsperger – scheu, scham- und hingebungsvoll, zart und hart, stur, trotzig oder verzweifelt, verbittert, verweint. Allertiefstes Rot, allerschrillstes Gelb beieinander als eins. Der Theaterhimmel über Berlin hat einen neuen Stern.

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Zur Premierenfeier gab’s gegen Mitternacht im Rangfoyer ein sagenhaftes Show-Konzert mit dem musikalisch so begabten Ensemble. Jeder Solist röhrt, summt, säuselt schwelgerisch Seins. Was für ein Erlebnis! Reeses Truppe als All-Star-Nest eigensinnig toller Pop-Künstler. Keine Frage: Performatives in schönster, jedermann begeisternder Ausformung. Und im Wandelgang erster Rang neuerdings ein großer Leuchtkasten mit Text. Da zitiert der schlaue Intendant – warum kam da zuvor keiner drauf? – den weisen B.B., den ewigen Haus- und Übervater: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“