20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Demokratie auf Sächsisch

von Jochen Mattern

Mit dem Eingeständnis eines Fehlers überraschte Ende Juli die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke, die interessierte Öffentlichkeit. Die SPD-Politikerin distanzierte sich von einer Studie, die sie selbst in Auftrag gegeben und deren Ergebnisse sie Anfang Mai erst präsentiert hatte. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung war von ihr beauftragt worden, die Ursachen und regionalen Kontextfaktoren von „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland“ zu untersuchen. Zwei Monate nach der öffentlichen Präsentation der Forschungsergebnisse wechselte die Ost-Beauftragte in das Lager ihrer Kritiker. Hatte sie zuvor die Studie gegen Kritik verteidigt und „keinen Grund für Zweifel an Inhalt und Methodik der Studie“ gesehen, spricht sie nun von einer Arbeit, die „schlampig“ gemacht und mit erheblichen methodischen Mängeln behaftet sei. Das Geld für die Forschungsarbeit, rund 130.000 Euro, möchte Frau Gleicke am liebsten zurückhaben. Ob es dafür eine rechtliche Handhabe gibt, will die Ost-Beauftragte prüfen lassen. Ihre Kritiker triumphieren. Während die einen sich mit dem öffentlichen Eingeständnis eines Fehlers begnügen, geht das anderen nicht weit genug: Sie fordern, allen voran der Generalsekretär der sächsischen CDU, Michael Kretschmer, eine Entschuldigung von der Ost-Beauftragten. Es sei „ein Skandal, wie die Ostdeutschen durch diese Studie unter Generalverdacht gestellt wurden“, begründet Kretschmer seine Forderung.
Dass die Studie die Ostdeutschen unter einen Generalverdacht stelle, ist ein Vorwurf, den führende Unionspolitiker erheben, um von den unliebsamen Forschungsergebnissen abzulenken. Denn die Studie bescheinigt der CDU, insbesondere der sächsischen, eine Mitverantwortung am Erstarken von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten Deutschlands. Tatsächlich geht die Strategie, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu skandalisieren, auf. Von den Erkenntnissen der Forschergruppe zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland wendet sich die mediale Aufmerksamkeit ab und der emotionsgeladenen Frage zu, ob die Ostdeutschen und deren Lebensleistung von den Göttinger Demokratieforschern und deren Auftraggeberin verunglimpft werden. Einen solchen Vorwurf kann die Sozialdemokratie, aus deren Reihen die Ost-Beauftragte und Auftraggeberin der umstrittenen Studie kommt, nicht auf sich sitzen lassen. Angesichts des Bundestagswahlkampfes erscheint es maßgeblichen Köpfen in der Partei ratsam, die Studie aus dem Verkehr zu ziehen anstatt über die Ursachen von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten des Landes zu streiten. Das könnte aufgrund der spannungsgeladenen Stimmung im Osten Wählerstimmen kosten. Parteipolitisch derart unter Druck geraten, bleibt der Ost-Beauftragten gar nichts anderes übrig, als öffentlich einen Fehler einzuräumen, was kein Politiker gern tut, und die unliebsame Studie zurückzunehmen. Selbst DIE LINKE schließt sich der Parteienschelte an der Studie an. Auch sie tut sie als unseriös ab. Vor allem stört DIE LINKE die Kurzschlüssigkeit, mit der die DDR für die rechtsextreme Gewalt in den ostdeutschen Bundesländern verantwortlich gemacht wird. Dieser Teil der Studie ist in der Tat der schwächste.
Dennoch: So berechtigt die Kritik an der Verknüpfung von Rechtsextremismus und DDR sein mag, am Kern der Studie geht sie vorbei. Deren eigentlicher Wert besteht in einer Analyse der politischen Kultur in ausgewählten Regionen Sachsens und Thüringens. In Sachsen sind das die Kleinstädte Freital und Heidenau, in Thüringen ist es der Stadtteil Herrenberg in Erfurt. Freital und Heidenau, beide nahe Dresden gelegen, haben, so die Studie, mit den „für ehemalige Industriestandorte dieser Größe typischen Strukturproblemen zu kämpfen“. Dazu zählen „eine schrumpfende und alternde Bevölkerung, Wohnungsleerstand, wenig neuen Gewerbeansiedlungen und ein entsprechend hoher Anteil an Arbeitslosen, die kaum noch in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar sind“. Im August 2015 hatten sie mit rassistischen Aufmärschen gegen Flüchtlinge weltweites Aufsehen erregt. Die „Besonderheiten der politischen Kultur“, auf die die Autoren stoßen, ergeben, Thüringen einmal ausgeklammert, ein wenig schmeichelhaftes Bild von der Demokratie in Sachsen. Zu den Kennzeichen der „Sächsischen Demokratie“, wie Wolfgang Thierse sie einmal treffend genannt hat, gehören unter anderem eine von der „CDU dominierte politische Kultur, die das Eigene überhöht und Abwehrreflexe gegen das Fremde, Andere, Äußere kultiviert“; „die Neutralisierung politischer Konflikte durch den Appell an eine kollektive regionale Identität“, um das Trennende zu überlagern; und zerbrechliche beziehungsweise mangelnde „zivilgesellschaftliche Strukturen gerade im ländlichen Raum“. In der Kommunalpolitik dominiert laut Göttinger-Studie die Auffassung, dass man sich „mit überparteilicher Sachpolitik zu befassen habe und dass parteipolitische Polarisierung dem städtischen Gemeinwohl schade“. Die Autoren sprechen von „einer problematischen gemeinschaftlichen Binnenintegration“, die „keine Konflikte und Kontroversen“ wünscht. „Dies hindert oftmals lokale Eliten wie z.B. Bürgermeister klar öffentlich Position zu beziehen.“
Ihre Forschungsbefunde fassen die Göttinger Demokratieforscher unter den Oberbegriff der „Entpolitisierung“ zusammen. Will man die Ergebnisse der Studie auf einen kurzen Nenner bringen, dann ist es dieser: Soziale und politische Konflikte werden in Sachsen zugunsten eines fragwürdigen Gefühls von Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft zum Verschwinden gebracht. Man könnte auch sagen: unter die Decke gekehrt. Im Land von AfD und Pegida verfahren Landes- und Kommunalpolitiker nach der Devise: Das regeln wir unter uns. Einmischung von außen ist unerwünscht.
Wie das konkret aussieht, mögen zwei Beispiele verdeutlichen. Auf dem Meißener Literaturfest im Juni konnte zwar eine Lesung aus dem Buch „Unter Sachsen: Zwischen Wut und Willkommen“ stattfinden, jedoch keine Podiumsdiskussion. Eine Podiumsdiskussion mit politischem Charakter, so die Meißner Stadtsprecherin zur Begründung, sei laut Benutzungsordnung des historischen Ratssaals nicht zulässig. Zuvor hatte ein CDU-Stadtrat das Buch als „Dreck“ bezeichnet, der „mit Sicherheit nicht in unserem Rathaus gelesen“ werde. Und im beschaulichen Bautzen sucht im August ein stellvertretender Landrat und Christdemokrat die Zusammenarbeit mit dem einstigen NPD-Kreisvorsitzenden in der Absicht, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Asylbewerbern und Rechtsextremen in der Stadt zu unterbinden. Dafür, dass er nicht die Polizei, sondern einen Neonazi einschaltet, erntet der Christdemokrat Lob von der örtlichen CDU. Sie gibt den Medien die Schuld daran, dass die Region als braun dastehe. Erst die Medien hätten die Zusammenarbeit zwischen einem CDU-Politiker und einem Neonazi zu einem Skandal gemacht, indem sie „jede Schlägerei zu einem Pogrom hochstilisieren“.
Aussicht darauf, dass sich nach den Bundestagswahlen, die der AfD ein besseres Ergebnis als der CDU beschert haben, die politische Kultur in Sachsen ändern würde, besteht nicht. Einmal mehr macht der Vorwurf des Generalverdachts die Runde. So warnt Sachsens Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender, Martin Dulig, vor einem „Sachsen-Bashing“. Und der Ministerpräsident des Landes, Stanislaw Tillich nimmt seine Landeskinder in Schutz: „Die Leute wollen keine Parallelgesellschaften und keinen Anstieg der Kriminalität. Sie wollen nicht, dass religiöse oder politische Auseinandersetzungen unter Flüchtlingen hier ausgetragen werden.“ Als Konsequenz aus der Protestwahl fordert der Landesvater, dass „Deutschland Deutschland bleiben“ müsse.