von Jelena Bjelica und Thomas Ruttig*
Über 250.000 Menschen haben 2015 und 2016 Afghanistan verlassen und gingen gemeinsam mit Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und anderen Staaten auf der so genannten „Balkanroute“ durch Griechenland, Mazedonien und Serbien in Richtung Europa. Während es nach dem EU-Türkei-Abkommen und verschärften Grenzkontrollen an inneneuropäischen Grenzen, die de facto das Schengen-Abkommen außer Kraft setzen, inzwischen erheblich schwieriger geworden ist, Europa zu erreichen, und Zehntausende in Griechenland, Serbien und Bulgarien festsitzen, gibt es auch eine entgegengesetzte Entwicklung: Seit 2016 steigt die Zahl jener, die nach Afghanistan zurückkehren. Dies umfasst freiwillige Rückkehrer und Abgeschobene. Unter ihnen sind auch Afghanen, die ihr Land schon früher verlassen hatten.
Die Rückkehr wird durch den so genannten Joint Way Forward (JWF) – ein Rahmenübereinkommen zwischen der EU und Afghanistan – sowie durch neue bilaterale Übereinkommen zwischen Afghanistan und Deutschland, Schweden und Finnland erleichtert, die allesamt im Oktober 2016 unterzeichnet wurden. (Es gibt auch ältere bilaterale Übereinkommen mit anderen Staaten.) Diese Übereinkommen ermöglichen es den Aufnahmeländern, mit Zustimmung der afghanischen Regierung abgelehnte Asylwerber abzuschieben; allerdings betonten die Unterzeichner, dass sie freiwillige Rückkehr bevorzugen würden. In der Tat ist die Drohung mit Abschiebung zugleich ein Instrument, die Zielgruppe zu freiwilliger Rückkehr zu bewegen. Untersuchungen von Pro Asyl und anderen Hilfswerken zeigen, dass in Deutschland großer Druck gerade auf Flüchtlinge aus Afghanistan ausgeübt wird, dass sie ihren Asylantrag zurückziehen und freiwillig in ihr Land zurückkehren. Das Wort Freiwilligkeit muss daher in vielen Fällen in Anführungsstriche gesetzt werden.
Länder wie Großbritannien und Dänemark oder die Nicht-EU-Mitglieder Australien und Norwegen nutzen schon über Jahre, so wie neuerdings auch Frankreich, Linienflüge für Einzel-Abschiebungen nach Afghanistan. Das erfolgt häufig mit Turkish Airlines (THY) über die Türkei und mit Hilfe türkischer Behörden. (Mangels THY-Direktflügen muss in Istanbul umgestiegen werden.) Bekannter wurde diese Tatsache, als Anfang Juli auf dem Flughafen Kopenhagen ein türkischer Passagier beim Piloten eines solchen Abschiebefluges gegen eine solche Abschiebung protestierte und diese abgebrochen wurde.
Das Joint Way Forward-Abkommen und die neuen bilateralen Übereinkommen mit den Aufnahmestaaten ermöglichen es jetzt auch, Charterflüge für Abschiebungen einzusetzen und Gruppenabschiebungen nach Afghanistan durchzuführen. Deutschland hat das zwischen Dezember 2016 und April 2017 bereits fünfmal getan. Dann musste – nach dem verheerenden Bombenanschlag Ende Mai in Kabul, bei dem auch die deutsche Botschaft stark beschädigt und arbeitsunfähig gemacht wurde – die Bundesregierung diese Abschiebeflüge zeitweilig aussetzen. Das wird wohl bis nach den Bundestagswahlen so bleiben, um das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Allerdings hält sich die schwarz-rote Koalition die Möglichkeit offen, auch in dieser Zeit straffällig Gewordene und sogenannte „Gefährder“ abzuschieben. (Ein solcher Flug war für Ende Juli geplant, wurde dann aber kurzfristig abgesagt.)
Das JWF-Abkommen erlaubt bis zu zwei Flüge mit 100 Abgeschobenen pro Woche. Zudem ist im JWF eine jährliche Obergrenze von 10.000 Rückkehrern vorgesehen, wobei nicht zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Rückkehr unterschieden wird.
Diese Zahlen sind bisher nicht erreicht worden. Laut dem Afghanistan-Büro der zum UN-System gehörenden International Organisation for Migration (IOM) landeten in Kabul zwischen Oktober 2016 und April 2017 zwölf Flugzeuge aus Europa mit insgesamt 176 abgeschobenen Afghanen an Bord. Dazu kamen seither mindestens zwei weitere Flüge, ein gemeinsamer schwedisch-österreichischer Flug und einer aus Finnland, mit insgesamt wohl 38 Menschen an Bord. Deutschland führt die Zahl der unfreiwilligen Rückkehrer im Jahr 2017 mit 72 an, gefolgt von Großbritannien mit 43.
Von München nach Kabul – ein Charterflug mit afghanischen Abgeschobenen
Die Autoren waren am 23. Februar 2017 am Hamed-Karzai-Flughafen in Kabul vor Ort, als eine Chartermaschine mit abgelehnten afghanischen Asylbewerbern aus Deutschland landete. Durchgeführt wurde der Flug von der italienischen Air Meridiana (die eigentlich Urlaubsflüge anbietet), weil die deutschen Fluggesellschaften Imageschäden befürchteten. An Bord waren 18 Afghanen zwischen 19 und 53 Jahren, begleitet von 60 deutschen Polizisten (das sind drei Polizisten pro Abgeschobenem). Mindestens sieben der Afghanen stammten aus Provinzen, die selbst von der deutschen Bundesregierung nicht als sicher betrachtet werden.
Die endgültige Namensliste der Abgeschobenen an Bord wurde erst nach der Ankunft des Flugzeugs von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft an die afghanischen Behörden übergeben. Vorher lag denen nur eine Liste mit 88 Namen vor, die offenbar zu einem „Pool“ von Personen gehören, die für eine Abschiebung nach Afghanistan in naher Zukunft vorgesehen sind. Während die deutsche Regierung im Inland behauptet, „viele“ der abgeschobenen Afghanen seien „Straftäter“, wurde den afghanischen Behörden – angeblich aus Datenschutzgründen – nicht mitgeteilt, um welche Personen es sich dabei handelte.
Begrüßt wurden die afghanischen Ankömmlinge vom zuständigen Flughafenpolizeikommandanten. Ihnen wurde Tee und Wasser gebracht und mitgeteilt, dass die afghanischen Behörden für die Unterkunft in der Anfangszeit sorgen würden.
Nach der Ankunft wurden alle Rückkehrer im Flughafenbüro des afghanischen Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) registriert. Weiterhin waren beim Empfang der Abgeschobenen Mitarbeiter des afghanischen Außenministeriums sowie der Ermittlungsabteilung des Innenministeriums sowie Vertreter von IOM und der Internationalen Organisation für Psycho-Soziales (IPSO), einer in Deutschland ansässigen und in Kabul aktiven Hilfsorganisation, anwesend. IOM stellte einen Arzt für eventuelle medizinischen Sofortbetreuung.
Rückkehrer, die den Wunsch äußersten, in ihre Heimatprovinzen oder zu Verwandten außerhalb Kabuls weiterzureisen, bekamen Reisegeld von IOM. Einige der 18 Rückkehrer verließen den Flughafen, ohne mit den anwesenden Behördenvertretern gesprochen zu haben. Acht Rückkehrer, die keine Verwandten in Kabul oder in anderen Provinzen Afghanistans haben (die meisten hatten jahrelang im Iran gelebt), nahmen das Angebot von IOM und des MoRR für eine vorübergehende Unterbringung im Aufnahmezentrum auf dem MoRR-Gelände im Westkabuler Stadtteil Dschangalak an, das von IOM betrieben wird. Allerdings darf man dort nur zwei Wochen lang bleiben – dann muss man sich eine neue Bleibe suchen oder kann zur Not in eine andere kleine Unterkunft weiterziehen. Sie wird von Abdul Ghafoor, der selbst aus Norwegen abgeschoben wurde, und seiner „Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation“ betrieben, die hauptsächlich Rückkehrern aus skandinavischen Staaten zur Verfügung steht und aus privaten europäischen Spenden finanziert wird..
Einer der auf dem Februar-Flug aus Deutschland Abgeschobenen war Gul Sayed Hussain, ein 23-jähriger Afghane aus der Provinz Kunduz. Er gab an, dass er seiner Familie von seiner Abschiebung nichts sagen konnte, da es ihm peinlich sei. Gul Sayed war 2011, als damals 17-jähriger, nach Frankfurt/Main gekommen. Er schloss die Schule in Darmstadt ab und begann, als Koch zu arbeiten. Diesen Beruf übte er bis zu seiner Abschiebung aus. Von seinem Lohn schickte er regelmäßig Geld zu seiner Familie, deren wichtigster Ernährer er sei. In Afghanistan sehe er für sich keine Zukunft. Sein Plan ist es jetzt, nach Dubai auszuwandern, um dort als Koch weiterzuarbeiten.
Ein etwa 30-Jähriger aus der Provinz Paktia, der darum bat, seinen Namen nicht zu veröffentlichen, war auf seiner Arbeitsstelle verhaftet und direkt zum Abschiebeflug in München verbracht worden. Man habe ihm keine Gelegenheit zu packen gelassen, so kam er ohne jegliches Gepäck und noch in der Fleecejacke der Sicherheitsfirma an, für die er in Deutschland gearbeitet hatte. In seinen Heimatdistrikt könne und wolle er nicht; dort herrscht Dschalaluddin Haqqani, Anführer eines der gefährlichsten Terrornetzwerke des Landes.
Bei einem weiteren jungen Paschtunen aus der Ostprovinz Nangrahar, ebenfalls umkämpftes Gebiet, hörte man nach über fünf Jahren Aufenthalt im Südwesten Deutschlands kaum noch einen Akzent – und wenn, dann einen badischen. Er habe bis zu seiner Abschiebung als Koch in einer hochklassigen Bar mit Restaurant gearbeitet und „meine Steuern gezahlt“. Seine Kollegen hätten sich für seinen Verbleib eingesetzt, aber – er schüttelte nur den Kopf.
Karge Rückkehrhilfen
Die freiwillige Rückkehr von Afghan wird von IOM im Auftrag der abschiebenden Länder und in Kooperation mit der afghanischen Regierung unterstützt. 2016 durchliefen, 6864 Menschen das IOM-Programm Afghanistan Voluntary Repatriation (AVR). Die meisten kamen aus Deutschland (3.159), gefolgt von Griechenland (1.247) und der Türkei (577) und waren junge Männer im Alter zwischen 19 und 26 Jahren. Kinder und Jugendliche unter 18 bildete die zweitgrößte Gruppe. Allerdings sanken die Zahlen von durchschnittlich etwa 200 Rückkehrern pro Woche bis September 2016 danach um etwa die Hälfte. Offenbar sprach sich herum, dass die Wiedereingliederungshilfen deutlich karger ausfallen als versprochen.
Im laufenden Jahr kamen dazu nach den letzten vorliegenden Zahlen bis Ende April 2017 noch einmal weitere 1.322 afghanische Rückkehrer – Flüchtlinge aus 17 Ländern, darunter 1.067 Personen aus zehn EU Ländern.
Für die freiwilligen Rückkehrer ist eine finanzielle Unterstützung möglich. Deren Höhe hängt von dem Land ab, aus dem sie zurückkehren, und bewegt sich zwischen 500 und 4.000 Euro. Je nach Land erhalten die Flüchtlinge das Geld in bar oder als indirekten Zuschuss, es geht also an Vermieter oder Arbeitsgeber, die ihnen Unterkunft oder einen Job geben. Manche Länder zahlen in von IOM verwaltete Reintegrationstöpfe ein, die zum Beispiel für Bildung, berufliches Training oder zur Gründung von Klein(st)unternehmen verwendet werden können.
2016 profitierten aber nur gut 1000 von 6800 Rückkehrern von dieser Unterstützung. Dass die Zahl so gering ist, hängt laut Masood Ahmadi, dem Manager des IOM-Reintegrationsprogramms in Kabul, mit den technischen und bürokratischen Hürden zusammen, die viele Rückkehrer nicht überwinden können. Viele verzichten wohl von Anfang an darauf.
Das gleiche gilt für die psychosoziale Unterstützung, die vor allem für Rückkehrer aus Deutschland von IPSO angeboten wird. Es werden Selbsterfahrungsgruppen und Training angeboten, um sich im afghanischen Alltag zurechtzufinden, Einzelberatungen, Zeichnen und das Erlernen eines Handwerks. Laut Inge Missmahl, Gründerin und Direktorin von IPSO, gibt es einen Unterschied zwischen Rückkehrern, die viele Jahre in Europa lebten, und jenen, die erst 2015 das Land verließen. Solchen, die Jahre in Deutschland verbrachten, falle es besonders schwer, in das afghanische Leben und Wertesystem zurückzufinden. Beide Gruppen erleben nach ihrer Ankunft Stigmatisierungen und fühlen große Demütigung. Dieses Gefühl zu lindern und beratend zur Seite stehen, ist die Hauptaufgabe von IPSO. Bis zu fünf Therapiesitzungen können von den Rückkehrern beansprucht werden.
IOM ist mandatiert, die Reintegration der Zurückgekehrten über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr zu beobachten. Dieses Monitoring muss jedoch von der entsprechenden europäischen Regierung beantragt werden. Dies hat bisher allerdings nur Norwegen getan.
Die afghanische Regierung gründete im April 2015 eine „Hohe Kommission für Migration“, „mit der Absicht, Politikrichtlinien zu formulieren [! – die Autoren] und die Kooperation [zwischen den zuständigen afghanischen Behörden] zu initiieren [!– die Autoren], um Binnenvertriebene (IDPs) und jene Flüchtlinge, die aus freiem Willen in ihr Heimatland zurückkehren, zu reintegrieren und unterzubringen“. Das heißt, dass es bis dahin keine solche Richtlinien gab. Die Abgeschobenen fanden in diesem Zusammenhang keine Erwähnung.
Zudem ist die afghanische Regierung bereits mit den Rückkehrern aus Pakistan und Iran überfordert – über eine Million allein im vergangenen Jahr; bis Juli kamen noch einmal mindestens 231.000 dazu. Für sie ist ein „multidimensionaler Ansatz zur Reintegration“ vorgesehen, zum Beispiel Finanzhilfen, die nicht an die Einzelnen gehen, sondern an die Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen, und eine gerechtere Landvergabe zu fördern und um Korruption einzudämmen. Die Hoffnung, eine Wiederansiedelung durch Landzuteilung einfacher zu machen, hat sich allerdings bisher als Utopie erwiesen. Grund dafür sind quasi-immune, oft bewaffnete lokale Machthaber, die sich das für die Wiederansiedlung vorgesehene Land widerrechtlich zu Eigen gemacht haben und nicht für die Rückkehrer frei geben.
Realitätscheck – was erhalten Rückkehrer und Abgeschobene?
Trotz der Angebote von IOM bis AMASO ist bei weitem keine flächendeckende oder gar für alle gleiche Unterstützung gewährleistet. Selbst wenn in Anspruch genommen, sind diese Hilfen für eine tatsächliche, dauerhafte Reintegration und einen realistischen Neustart in Afghanistan ungenügend.
Hinzu kommt, dass Menschen in ein Land zurückkehren, dessen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten nichts anderes als Krieg gesehen hat und andauernden sozialen Spannungen ausgesetzt war und ist. Unter diesen Umständen stellen die Rückkehrer und Abgeschobenen aus Europa eine zusätzliche Belastung für Afghanistan in einer Zeit dar, in der das Land eine sehr viel größere Zahl an Rückkehrern aus den Nachbarländern integrieren muss, in deren Masse die Aufmerksamkeit für die „Europäer“ unterzugehen droht.
Afghanistans Regierung und ihre Finanzgeber haben sich als unvorbereitet auf die Mengen an Rückkehrern, unter denen die aus Europa nur einen Bruchteil ausmachen, erwiesen. In Gesprächen mit Rückkehrer kam heraus, dass kaum einer von ihnen eine andere Unterstützung als die zwei Wochen geschützte Unterkunft angeboten bekommen hatte.
* – Die Autoren arbeiten beim Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, nichtprofitorientierten Forschungsorganisation mit Sitz in Kabul und Berlin. Dieser Text erschien zuerst im Mai 2017 auf Englisch bei AAN, wurde aber erheblich aktualisiert.
Schlagwörter: Afghanistan, Jelena Bjelica, Rückkehr, Thomas Ruttig