von Stephan Wohanka
Über den designierten SPD-Kanzlerkandidaten, so der frühere Chefredakteur der Bunten, Hans-Herrmann Tiedje, „ist alles geschrieben worden, nur noch nicht von jedem“. Der böse Nachsatz rührt daher, dass Martin Schulz – „hat kein Abitur, weil er sich mehr fürs Fußballspielen interessierte als fürs Lernen, […] hat wenig Haare und viel Mut […]“ – mit dem Thema Gerechtigkeit punkten, respektive ins Amt des Kanzlers gelangen wolle.
Verdient das Thema diese Häme? Und warum bekommt gerade Schulz die Dresche?
Nicht erst seit gestern mehren sich Stimmen, die davon sprechen, dass soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl durch einen zur sozialdarwinistischen Ideologie verkommenen Neoliberalismus verraten wurden und werden. Dass das die „Linke“ und Linke (schon) immer behaupteten, gehört zu ihrer DNA. Dass aber konservative, sogar in ihrer „erz“-Variante, das Thema desgleichen schon seit Jahren aufrufen, verhallte lange ungehört und findet erst jetzt ein Echo.
Eine der bekanntesten – und frühesten – dieser Wortmeldungen ist die des verstorbenen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, der 2011 einen Artikel überschreibt: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“. Den Titel übernimmt Schirrmacher vom erzkonservativen britischen Journalisten und Biographen Maggi Thatchers, Charles Moore, der schreibt: „Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?“ Schirrmacher weiter: „Das politische System dient nur den Reichen? Das ist so ein linker Satz, der immer falsch schien, in England vielleicht etwas weniger falsch als im Deutschland Ludwig Erhards. Ein falscher Satz, so Moore, der nun plötzlich ein richtiger ist. ‚Denn wenn die Banken, die sich um unser Geld kümmern sollen, uns das Geld wegnehmen, es verlieren und aufgrund staatlicher Garantien dafür nicht bestraft werden, passiert etwas Schlimmes. Es zeigt sich – wie die Linke immer behauptet hat –, dass ein System, das angetreten ist, das Vorankommen von vielen zu ermöglichen, sich zu einem System pervertiert hat, das die wenigen bereichert‘“. Schirrmacher rekurriert auch auf den früheren CDU-Ministerpräsidenten und liberalen Katholiken Erwin Teufel, der sagt: „Ich kann es nicht für gerecht halten, dass eine Frau 30 Prozent weniger verdient, wenn sie die exakt gleiche Arbeit tut wie ein Mann.“
Kürzlich erschien Bernie Sanders Buch „Unsere Revolution: Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft“ auf deutsch – vielleicht noch keine Sensation, denkt man an den Wahlkampf des US-Senators zurück. Schon aufschlussreicher ist es, wenn der Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart jüngst im Blättchen zitiert wird: „Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich. Das festzustellen ist nicht populistisch, sondern wahrhaftig. ,Globalisierung‘ zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues“. Damit ist nochmals ausgesprochen, dass die strukturelle Ausgrenzung unterer Schichten in der Sozialisierung der Bankschulden ihre Krönung fand; das gilt bis heute. Die Verursacher der Bankenkrise wurden nicht nur nicht bestraft oder öffentlich verurteilt; nein, sie erhielten Generalabsolution und machen munter weiter. Noch 2005 veröffentlichte ebendieser Steingart das Buch „Deutschland – der Abstieg eines Superstars“: Staat verschlanken, Wohlfahrtsunwesen abbauen, Tod dem Tarifkartell – neoliberale Hausmannskost? „Neoliberal ist Quatsch. Wirtschaft findet nicht allein in der Wirtschaft statt“, dozierte der damals.
Heute reicht es, eine x-beliebige Wirtschaftsseite aufzuschlagen, um beispielsweise zu lesen, dass „bei den Löhnen immer noch Nachholbedarf besteht … Man kann nicht auf Dauer alle Gewinne bei den Kapitaleigentümern abliefern“. Die Kritik könnte von Schulz stammen, sie könnte auf dem gerade beendeten „Linken“-Parteitag formuliert worden sein – falsch, sie wird vom Blackrock-Manager Philipp Hildebrand geäußert. Was – da dies in einem Interview gesagt wird – zur Frage führt: „Das sagt der Vizechef des größten Kapitalverwalters weltweit?“, worauf Hildebrand kontert: „Ja, weil so eine Entwicklung nicht nachhaltig ist.“ Am Ende der Befragung kommt es noch präziser: „Alle, die an den Kapitalismus glauben, müssen sich Sorgen über die ungleiche Entwicklung der Einkommen und Vermögen machen“. Nicht nur die …
Das politische Versagen der Eliten in der Finanzkrise wurde umgeleitet in harschen Nationalismus (Griechen: „Ab an die Arbeit, du Faulpelz!“) oder umgedeutet in Sparzwänge („Schwarze Null“) mit deutlich negativen sozialen Auswirkungen.
Warum aber kann Schulz mit Gerechtigkeit erkennbar dann nicht punkten? Ich denke, es liegt nicht am Gegenstand, sondern an weiterhin mangelnder Glaubwürdigkeit, ja sich potenzierender Unglaubwürdigkeit der SPD und ihres Kandidaten: Schien Schulz als Kämpfer für die „hart arbeitenden Menschen“ erst in die Fußstapfen eines Jeremy Corbyn treten zu wollen, machte schon die verlorene Saarland-Wahl klar, dass das Sich-Einlassen auf die „Linke“ zur Realisierung dieser Politik nur auf Taktik und nicht auf Überzeugung gründete. Die FDP wurde zum Wunschpartner, die Vermögenssteuer wieder Teufelszeug. Ob deshalb folgender Vorschlag – wohlgemerkt aus dem linken Lager, nämlich von Thomas Seibert, Vorstandssprecher des „Instituts Solidarische Moderne“, – gut ist? „Wobei Schulz das (die noch ungenügende Mobilisierung linker Potentiale – St.W.) ändern könnte: indem er aus rein opportunistischen Gründen nach links geht und mit dieser Show eine spontane Zustimmungswelle auslöst, die ihn und andere unter Druck setzt.“ Mit Opportunismus und „Show“ links Wahlen gewinnen? Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen!
Schlagwörter: Gerechtigkeit, Martin Schulz, Neoliberalismus, sozialdarwinistisch, SPD, Stephan Wohanka