20. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine volle Pulle Futschi, magere Mindestgagen und ein jugendlicher Held namens Klemke…

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„Wir sind, was wir sind – und das ist ganz gewöhnlich“ trällert das weltberühmte Damen-Trio aus Neukölln: die prollige Hartz-VIII-Queen Edith Schröder, die tantenhafte Kneipenwirtin Jutta Hartmann und die frettchenhafte Legginsboutique-Besitzerin Brigitte Wuttke. Und irgendwie stimmt das schon mit dem „gewöhnlich“ im Sinne von „normal“, zumindest für Nord-Neukölln.
Es stimmt aber auch im Sinn von „extrem-gewöhnlich“ oder anders gesagt von „ordinär“. Denn was die von Maria Schenk im kostbaren Kiez-Style kostümierten Weiber von Neukölln Ades Zabel, Bob Schneider& Biggy van Blond so alles ablassen in der Berliner Kabarett-Anstalt zwischen Tunten-Revue, ätzend sozialpolitischem Kabarett, schmissiger Hitparade und drastischer Dating-Show (wer ganz vorn sitzt, hat die Chance, für einen Prosecco mitspielen zu dürfen), was da also mit diesem Dreier alles abgeht auch an unkorrekt Schrägem im Neuköllnical „Die wilden Weiber von Neukölln“, das ist nix für abgespreizte kleine Finger. Aber verbreitet allemal gute Laune. Und vermittelt nebenher den zahlreichen Touristen im animierten Publikum (das längst nicht mehr nur aus Fans der Szene besteht) einen saftigen Einblick ins Berlinische Innenleben jenseits von Berlin-Mitte mit Museumsinsel und Gendarmenmarkt.
Allein schon die kräftig ins Absurde gedrehten real-dramatischen Stationen der Show machen klar, welch Daseins-Kosmos hier durchschritten wird: Neben Suffloch-Kneipe, Beinbekleidungs-Shop und privat-heimischem Sofa mit Spitzendeckchen auf dem Fernseher in der Nogatstraße gibt’s nämlich im Kontrast den Bio-Kaufladen, die Psycho-Therapie-Praxis, die Soja-Latte-Tränke für vegane Blogger, das Forschungslabor für Arzneimittel-Probanden sowie das Studio vom Stadtteil-Fernsehen. Damit ist fast alles gesagt.
Der tobende Rest sind Tempo-Tempo, Wortwitz (klasse Script!), fliegender Kostümwechsel, urige Musiken und urkomische Filmeinspieler – Regisseur Bernd Mottl mit seinem genialen Händchen fürs trefflich Aberwitzige bringt die ausgefallene Mischung souverän unter den einen ausladenden Damentuntenhut – der freilich allemal ein bisschen mehr ist als bloß Dame und Tunte. Der also einen frechen Stich hat vom sozusagen ziemlich Speziellen ins ordentlich Allgemeine. Darauf einen Futschi!
Futschi? Das ist der in jeder Hinsicht durchschlagende und vornehmlich in der Nord-Neuköllner Pumps-Szene beliebte Alkohol-Mix aus Cola-Weinbrand; das Mischungsverhältnis je nach Stimmung – die brave Norm wäre 80:20. Selbstverständlich belieben auch Edith, Brigitte, Jutta ihn lustvoll zu schlucken in schönen wie schlimmen Lebens- und Mischungsverhältnissen.

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Die Zahl der Inszenierungen an von öffentlicher Hand finanzierten Bühnen ist heutzutage um knapp 50 Prozent höher als in der Spielzeit 1991/92; da waren es 3387 Inszenierungen, 2014/15 immerhin 5381 – am Ende der laufenden Saison dürften es gut 6000 sein, verfolgt man die Steigerungsraten über die vergangenen Jahre.
Trotz Netflix und Youtube, man eilt nach wie vor massenhaft in die Stadt- und Staatstheater. Ein Grund: Das immer breiter gefächerte Angebot; sowohl an Inhalten wie Formen und Spielorten (vom Theaterkeller bis zum Theaterdachboden). Und natürlich, wie gesagt, die zunehmende Premierendichte, die freilich einhergeht mit zunehmender Selbstausbeutung der Theaterleute.
Nebenbei bemerkt: Die Mindestgage (oder Eintrittsgage, bei der es dann gern viele Jahre lang bleibt) beträgt fürs künstlerische Personal gerade mal 1850 Euro im Monat. Damit sind beispielsweise die Schauspieler, die immerhin das Antlitz eines Theaters prägen, nicht selten das am schlechtesten bezahlte Personal – Techniker verdienen da meist deutlich mehr; weil: sie haben in der Regel gewerkschaftlich durchgesetzte Tarife des öffentlichen Dienstes. Freilich könnten die Theater ihren Künstlern auch mehr zahlen als Mindestlohn, das steht ihnen schließlich frei. Doch dafür reicht dann gewöhnlich der Etat nicht. Neuerdings hat das Theater Konstanz unter Intendant Christoph Nix den Teufelskreis durchbrochen und eine Mindestgage von 2000 Euro monatlich festgelegt. Das Geld dafür nimmt Nix aus dem Geld-Topf für die künstlerische Produktion, die somit eingedampft wird. Eine fragwürdige Lösung, die allerdings diverse Existenzgrundlagen im Ensemble sichert. Eine andere Selbstverpflichtung übernahm jetzt Axel Vornam, Chef des Heilbronner Theaters. Dort gibt es jetzt 2300 Euro Mindestgage. Die Mehrausgabe wird er aber auch andernorts einsparen müssen. Vertrackte Lage.
Zurück zur Statistik: Die Zahl der Besucher kreist seit Jahrzehnten um die 20-Millionen-Marke pro Spielzeit; die elf Millionen Besucher privater Bühnen nicht mit gerechnet. Kein Wunder, Deutschland hat noch immer die weltweit höchste Theaterdichte: Es gibt 142 öffentlich getragene Stadttheater, Landesbühnen, Opernhäuser, 220 Privattheater, 60 Sinfonie-, Kammer- und Rundfunkorchester und etwa 70 Festspiele. Bravo!
Aber: Nicht wenige, sonderlich kleinere Häuser mit in der Regel starker künstlerischer Ausstrahlung in die Kommune (oft sind sie obendrein größter Arbeitgeber vor Ort) ringen nach wie vor nervenzerfetzend um ihre Finanzierung mit gern ignoranten Lokalpolitikern. Es ist zwar wirklich nicht alles schlecht; doch vieles ist längst noch nicht gut.

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Bussum ist ein Nest 20 Kilometer östlich von Amsterdam. Dort wurde, es war im Sommer vor sechs Jahren, per Zufall das vor den Nazis versteckte Archiv der Jüdischen Gemeinde dieses Städtchens entdeckt. Die Dokumente umfassen vollständig einen Zeitraum von 150 Jahren; einschließlich der gesamten Korrespondenz aus dem Zweiten Weltkrieg. Aus diesen Dokumenten konnte die Filmregisseurin Annet Betsalel die erstaunliche Geschichte zweier Wehrmachtssoldaten zu Tage fördern – Johannes Gerhardt und Werner Klemke. Mit lebensgefährlichem Risiko retten sie das Leben von Mitgliedern der jüdischen Familie van Perlstein, indem sie falsche Papiere für sie anfertigen; beide sind ausgebildet im grafischen Gewerbe. Und zusammen mit den Perlsteins halfen Gerhardt und Klemke auch weiterhin, Dutzende Menschen vor der Deportation durch die NS-Besatzer zu bewahren. – Gerhardt fiel 1944; Klemke überlebte Krieg und Internierung, kehrte heim in seine Geburtsstadt Berlin und wurde einer der berühmtesten Grafiker und Buchkünstler der DDR. Über seine todesmutigen Rettungsaktionen als Dokumentenfälscher – gemeinsam mit Johannes Gerhardt – hat Klemke zu DDR-Zeiten öffentlich nie gesprochen. Erst durch den Dokumentarfilm von Annet Betsalel zwei Jahrzehnte nach Klemkes Tod (und sieben Jahrzehnte nach dem qualvollen Sterben von Johannes Gerhardt) wurden die von beiden mit organisierten Rettungsaktionen verfolgter Juden in Holland publik.
Annet Betsalel: „Ich wollte mit meinem Film ‚Treffpunkt Erasmus – Die Kriegsjahre von Werner Klemke‘ vor dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs und des folgenden Kalten Kriegs eine Geschichte erzählen von heldenhaftem Kampf gegen Ungerechtigkeit, von einer großen Liebe zu Büchern und von engen Freundschaften mit den Geretteten, die ein Leben lang hielten.“
Betsalels tief bewegender Film voller Unglaublichkeiten, Bitterkeiten und Schönheiten wird im Beisein der Regisseurin am 28. Juni, 19 Uhr, in der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung betriebenen Galerie Helle Panke in Berlin-Pankow gezeigt. Im Rahmen einer kleinen großartigen Grafik-Ausstellung mit Klemke-Arbeiten aus den Privatsammlungen von Annet Betsalel, André Eckardt, Hans Hübner und Roland R. Berger. Anlass ist der 100. Geburtstag des bedeutenden Künstlers, des großen Menschenfreundes und hinreißenden Humoristen, geistreichen Charmeurs, witzigen Erotikers und eleganten Lebemanns.