von Dieter B. Herrmann
Die moderne Wissenschaft, vor allem die Physik des Mikrokosmos ebenso wie jene des Universums, hat es zu einem hohen Maß an Unanschaulichkeit gebracht. Fast immer muss man als Referent auf die Frage von Zuhörern „Wie muss ich mir das vorstellen?“ mit der lapidaren Antwort aufwarten: „Gar nicht“. Doch Anschaulichkeit ist natürlich kein Wahrheitskriterium.
Das zeigt schon die einfache Tatsache, dass wir uns nach den Erkenntnissen der Astronomie keineswegs im Zentrum der Welt befinden, obschon alles so aussieht. Die Sonne bewegt sich für den naiven Betrachter offensichtlich um die Erde, die anderen Himmelskörper einschließlich der Fixsterne ebenfalls. Tausende Jahre Forschung haben aber gezeigt, dass nur der Mond sich tatsächlich um die Erde bewegt. Doch hier ist die Vorstellungskraft ja noch nicht außer Gefecht gesetzt. Denn, dass sich die Rotation der Erde in einer scheinbaren Bewegung des Himmels um die Erde widerspiegelt, leuchtet jedem ohne Weiteres ein.
Da sieht es in der modernen Teilchenphysik schon anders aus. Als das Elektron 1897 entdeckt wurde, lag es nahe, sich dieses „Atom der Elektrizität“ als ein winziges kugelförmiges Teilchen vorzustellen. Heute allerdings geht man davon aus, dass es sich um ein punktförmiges Teilchen handelt, das also überhaupt keine Ausdehnung besitzt. In den Rechnungen der Theoretiker taucht der Elektronenradius aber dennoch auf, um die Resultate experimenteller Untersuchungen erklären zu können. So hatte zum Beispiel Arthur Compton 1922 den Effekt entdeckt, dass Röntgenstrahlen an Graphit gestreut werden und zwar so, dass die Wellenlänge der gestreuten Strahlung größer war als jene der einfallenden. Die Wellenlänge der gestreuten Strahlung verhielt sich genauso, wie man es bei einem elastischen Stoß zwischen zwei Teilchen erwarten konnte. Licht musste also aus Teilchen bestehen und diese wurden an Elektronen gestreut. Doch nun beginnt das Versagen der Anschaulichkeit. Denn Beugungsversuche an einem Doppelspalt, die Thomas Young schon 1802 durchgeführt hatte, zeigen klar und deutlich, dass Licht eine Welle darstellt. Anders kann man die Überlagerungen (Interferenzen) von Wellen, die einen doppelten Spalt durchlaufen nicht erklären. So kam Louis de Broglie 1924 auf die Idee, dass auch Teilchen einen Wellencharakter besitzen. Und die Experimentalphysiker fanden tatsächlich schon 1927 den Beweis, dass auch Elektronen Welleneigenschaften aufweisen und Beugungsmuster erzeugen, wie man sie nur von Wellen erwartet hätte. Ja, was denn nun? Welle oder Teilchen? Diese Frage lässt sich letztlich nicht beantworten.
Immerhin hatte das ursprüngliche Atommodell von Bohr noch ein hohes Maß an Anschaulichkeit: im Kern des Atoms die positiv geladenen Protonen und die elektrisch neutralen Neutronen sowie – auf verschiedenen Bahnen umlaufend – die negativ geladenen Elektronen. Gleichsam eine Art Planetensystem im Kleinen. Springt ein Elektron von einer Bahn mit höherer Energie auf eine solche mit geringerer, wird die Energiedifferenz als elektromagnetische Welle einer bestimmten Farbe (Frequenz) abgestrahlt.
Doch leider fanden die Experimentalphysiker in den Spektren zahlreiche Details, die sich mit diesem Modell nicht erklären ließen. So schlug denn 1926 Erwin Schrödinger ein neues atomphysikalisches Konzept vor, das die schöne Anschaulichkeit des Bohrschen Atommodells in den Wind schlug. Da jedes Teilchen auch Welleneigenschaften besitzt, kann es sich auch nicht an einem im klassischen Sinne scharf definierten Ort aufhalten. Schrödinger formulierte nun eine Wellenfunktion, die aussagt, mit welcher Wahrscheinlichkeit man an einem bestimmten Ort im Atom ein Elektron antreffen würde. Er machte dabei von de Broglies Materiewellen Gebrauch. Ableiten lässt sich diese Gleichung nicht, – sie stellt vielmehr ein Postulat dar und kann auch nicht gemessen werden. Eigentlich war es eine Anpassung an die gefundenen Gegebenheiten, die sich nun bestens darstellen ließen, so zum Beispiel die Spektren von Mehrelektronensystemen, Aufspaltungen von Spektrallinien im Magnetfeld, das Zustandekommen chemischer Bindungen und anderes.
Die Entwicklung der Quantenmechanik als Theorie für die Beschreibung von Vorgängen in der Mikrowelt hatte bald eine Fülle von Erfolgen zu verzeichnen und die Naturgesetze in vielen Bereichen auch durchgreifend vereinfacht. Allerdings ging dies stets auf Kosten von Anschaulichkeit und Verständlichkeit. Man fühlt sich an eine Formulierung von Einstein erinnert, der bekanntlich nach immer größerer Einfachheit suchte, auch wenn die „logische Grundlage dadurch immer erlebnisferner und der gedankliche Weg von den Grundlagen zu jenen Folgesätzen, welche ihr Korrelat in Sinneserlebnissen finden, immer beschwerlicher und länger wird.“ Doch die Unanschaulichkeit ist nicht das Hauptproblem. Die Frage lautet vielmehr: wie „wahr“ sind die Ergebnisse der Forscher?
Gerade die ungewöhnlichen und unserer Alltagserfahrung unzugänglichen oder ihr widersprechenden Resultate der Quantenmechanik und ihrer Folge-Theorien erheischen eine philosophische Reflexion. Denn die Aussagen beruhen auf abstrakten mathematischen Objekten (Beispiel: Wellenfunktion), die – anders als in der klassischen Physik – nicht intuitiv interpretiert werden können. Das haben die frühen Protagonisten wie Niels Bohr, Werner Heisenberg und andere auch rasch erkannt und entsprechende durchaus kontroverse Interpretationen entwickelt, die sogar der Frage nach der Realität von Quantenobjekten und deren Eigenschaften nachgehen. So sagen die Vertreter der instrumentalistischen Interpretation, dass die quantenmechanischen Modelle kein Abbild der Wirklichkeit darstellen, sondern lediglich einen mathematischen Formalismus, der geeignet sei, experimentelle Ergebnisse zu beschreiben. Auch hier passt ein Einstein-Aperçu von 1921: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“
Doch die Vertreter der realistischen Interpretation meinen genau das Gegenteil: Die ungewöhnlichen Eigenschaften der Quantenobjekte kommen ihnen in der Realität tatsächlich zu und die Theorien widerspiegeln diese Realität. Die Diskussionen um die Probleme halten bis heute an. Sie nehmen sogar an Schärfe noch zu, denn im Zuge der weiteren Entwicklung der Quantenphysik haben sich die Physiker immer mehr Parameter ausgedacht, um die Wirklichkeit zu beschreiben, ohne zu wissen, was diese Parameter im Grunde bedeuten. Sie werden willkürlich gewählt getreu dem Grundsatz: um etwas zu erklären, was man nicht versteht, führt man etwas ein, das sich eigentlich weder herleiten noch begründen lässt, außer mit dem Wunsch ein konsistentes Gesamtbild zu erhalten.
Interessant ist der Umstand, dass solche Fragen in abgewandelter Form schon sehr lange diskutiert werden. Bereits der Physiker und bis heute bekannte bedeutende Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) hat sich sehr dezidiert dazu geäußert. Dies geschah vornehmlich in einem langen Brief vom 29. November 1788 an Georg Friedrich Werner, der Lichtenberg um eine Stellungnahme zu seiner Theorie des Äthers, der Gravitation, der Wärme und des Lichts gebeten hatte. Dort nun äußert Lichtenberg in aller Klarheit einige Gedanken zur Aufgabe der Wissenschaft und zur Rolle von Hypothesen, die auch heute noch als durchaus modern gelten können. Es gäbe – heißt es in dem Brief – sehr viele Wege eine gewisse Erfahrung zu erklären, doch „so hat man noch wenig getan, wenn man eine neue Materie erfindet, und nun daraus die Sache erklärt, man zeigt nur, dass so etwas möglich sei. Man will aber wissen, … welches der einzige wirkliche sei, und da (scheint mir) fällt doch wohl in die Augen, dass ich mich, wenn ich mich nicht in einem Labyrinth verlieren will, so nahe an das Wirkliche, das heißt so weit von aller Erdichtung entfernt halten muss als möglich; … Denn der Erdichtungen Zahl ist … Legion, … Wahrheit gibt es nur eine einzige. Ew. Wohlgebohren scheinen zu glauben eine Erdichtung, die alle bekannten Phänomene erkläre, sei der Wahrheit gleich … Das ist sie aber nicht …“. Etwas später heißt es in demselben Brief, das einzige Verfahren zur Kenntnis der Wahrheit zu gelangen, sei dasjenige, „was jetzt bei weitem der beste Theil der Physiker gewählt hat, nichts anzunehmen, was ich nicht auf irgendeine Weise durch Erfahrung bestätigen kann …“ Das Experiment als höchster Richter in Fragen der Wahrheit sitzt auch heute noch unangefochten auf seinem Thron!
Am 1. Juli 2017 jährt sich übrigens der Geburtstag von Lichtenberg zum 275. Mal.
Schlagwörter: Anschaulichkeit, Dieter B. Herrmann, Experiment, Georg Christoph Lichtenberg, Physik des Mikrokosmos, Wahrheit