20. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine Nymphe an der Elbe, künstliche Intelligenz an der Spree und Karl Mays gereimte Rufe zu Gott…

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Hochzeiten pflegen ein Spektakel aus drei Akten zu sein: Der erste, der amtlich-zeremonielle; der zweite, der lukullisch-gesellige; der dritte, der sozusagen private Akt. Nicht anders auch die Vermählung fürstlicher Kinder, beispielsweise die der Tochter Johann Georg I. von Sachsen mit pässlichem Herrn 1627 in Torgau, nur hier eben alles entsprechend hocharistokratisch-opulent – „das churfürstliche Fräulein als Braut saß in einem Wagen, an dem man fast nichts als Gold und Silber sehen konnte“.
Doch kommen wir gleich zum zweiten Akt (der erste langweilt und drittens sind wir diskret). Laut Heuraths-Acta bleibt dokumentiert: Eine standesgemäß übliche Komposition aus Kabarett, Nervenkitzel, Erotik, Show – englische Komödianten, ergänzt durch „hupende und spielende germans“, Wolfshatzen, Ballett, Feuerwerk. Und natürlich mit Musik.
Zu diesem feinen Zwecke schipperten aus der Residenz dreißig Musikanten der Kurfürstlichen Kapelle (heute: Sächsische Staatskapelle) nebst ihrem Chef sowie acht Mann Verstärkung („Bergsänger“, also Laienjodler aus dem Erzgebirge) von Dresden die Elbe hinunter nach Torgau. Am 1. März trafen sie auf Schloss Hartenfels ein. 43 Tage später hatten sie ihren wichtigsten, am meisten erwarteten Auftritt: Nämlich am 13. April 1627, zwei Tage vor Schluss der mehrwöchigen Heuraths-Sause, genannt Fürstliches Beylager, im Anschluss an die Abendmahlzeit, war Premiere der „Pastoral-Tragicomoedie“ namens „Dafne“. Libretto: Der gerade zum „poeta laureatus“ gekrönte Dichter Martin Opitz. Musik: Der zehn Jahre zuvor nach vier Jahren Italien-Aufenthalt zum kurfürstlich-sächsischen Hofkapellmeister ernannte Heinrich Schütz – seine Grabstätte ist, durch Messing-Inschrift deutlich markiert, in der Dresdner Frauenkirche.
An diesem Frühlingsabend vor 390 Jahren, im Festsaal des Torgauer Schlosses, eine Autostunde elbabwärts von der Semperoper, schlug also mit der bittersüßen Geschichte der verzauberten Nymphe Dafne – man höre und staune! – die Geburtsstunde der deutschen Oper.

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Gerade jetzt wieder schwirrte die Meldung durch die Medien, das man kurz davor stehe, Apparate mit künstlicher Intelligenz zu haben – was deutlich mehr ist als das, was Roboter heutzutage intus haben. Aus dem freilich uralten, philosophisch hochkontaminierten Thema „Künstlicher Mensch“ eine gar nicht so ferne und dennoch frappant gegenwartsgriffige, in keinem Moment platte oder gar peinlich angeschaffte Komödienfantasie zu filtern, ist ein ziemliches Kunststück: Dem so erfahrenen, für die Erfindung guter, also spannender Geschichten bekannten und deshalb viel gespielten Autor Folke Braband gehört das Ruhmesblatt! Er selbst besorgte auch die deutsche Erstaufführung von „Fehler im System“ jetzt in Dieter Hallervordens pfiffigem Schlossparktheater zu Berlin.
Oliver 4.0. heißt die künstliche Intelligenz, den die hübsche junge Emma über die Agentur Partnercook.com engagiert hat – als Haushaltsroboter, der in Windeseile ungeahnt hilfreiche Fähigkeiten entwickelt und zudem frappierende Ähnlichkeit hat mit Emmas ruppig sprödem Liebhaber gleichen Namens. Der echte Oliver aus Fleisch und Blut (Tommaso Cacciapuoti) gelangt (kuriose Szenen!) zunehmend ins Hintertreffen gegenüber Oliver 4.0 (auch: Tommaso Cacciapuoti); der – ein Fehler im System! – mit der Zeit Gefühle inniger Zuneigung und einfühlsames Verständnis entwickelt für Emma (Jasmin Wagner), die von so viel Empathie schwer beeindruckt ist. Wird es womöglich gar Liebe auf beiden Seiten? Geraten die Gefühle auf beiden Seiten außer Kontrolle? Oliver 4.0 ahnt die Katastrophe (Katastrophe?) und fährt sich, also sein System, am Ende herunter auf null.
Parallel dazu erzählt Brabands schöne und witzige Geschichte von einer in gewisser Weise zwar ähnlichen, aber letztlich doch ganz andersartigen Transformation: Emmas Vater befindet sich im Prozess einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau. – Da werden ein gestandener Ex-Familienvater zur Dame und eine Maschine zum Menschen. Ein enorm heikles Konstrukt, das sowohl der Autor als auch der Regisseur und vor allem der Star des Abends, Jürgen Tarrach, mit Eleganz, Ironie, Charme und Herzensgüte hinreißend meistern – und selbstredend ohne auch nur einen Anflug von Peinlichkeits-Tunterei. – Wir haben mit „Fehler im System“ ein Stück intelligentes Unterhaltungstheater vom feinsten. In jeder Hinsicht perfekt gemacht, amüsant, melancholisch verschattet, nachdenklich machend über den Tag hinaus.

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Geboren im Spätwinter vor 175 Jahren im sächsischen Ernstthal und gestorben im Vorfrühling vor 105 Jahren, kurz vor seinem 70. Geburtstag. Das mag reichen für 2017 als (zugegeben: ein klein bisschen eckiges) Karl-May-Gedenkjahr. Das Privatfernsehen gedachte des großen Sachsens vorab schon mal an Weihnachten letzten Jahres durch Philipp Stölzl, der „Winnetou“ verfilmte. Er tat das allein schon deshalb, weil er erklärtermaßen mit Karl May aufwuchs (und mit Goethe, Wagner, Tim und Struppi dazu). Und im Dresdner Staatsschauspiel läuft mit rasendem Erfolg Stölzls lakonischer Liebesblick aufs romaneske Leben des germanischen Oberindianers „Der Phantast. Leben und Sterben des Dr. Karl May“ mit Götz Schubert in der Titelrolle. „Ich bin nicht allein; ich bin noch mehr“ – das Selbstzitat gibt das Motto für die Show. Denn wahrlich, K.M. gilt als toller Abenteurer, gerissener Bestsellerautor (Millionen Exemplare in 47 Sprachen) und noch dazu als Kosmopolit, als Mystiker – und viele von uns werden dem noch einiges hinzuzufügen wissen…
Zu seinem Leidwesen schaute Karl so gar nicht aus wie Winnetou: May war 166 Zentimeter klein, schmächtig, zart – aber mit Bart und ausgeprägtem Hang zum Größenwahn. Oder, vornehmer gesagt, mit einem Drang zum Höheren, Himmlischen, ja Göttlichen (wer hätte es vermutet). Schließlich hing er lange genug in den profanen Niederungen eines ärmlichen Daseins, klaute albernes Zeug, vornehmlich in Kneipen (fünf Billardbälle, ein Handtuch, Spitzenleistung: ein Gaul, Wert 66 Taler). Das brachte ihm, nebst diversen hochstaplerischen Betrügereien, mehrere Jahre Knast ein.
Seine manischen Schreibereien sind mithin nicht bloß rigoroser Akt sozialer, sondern auch moralischer Selbstbefreiung – nebst Höherentwicklung. Etikettierte er doch zuletzt sein gigantisches Gesamtwerk als „ein einziges Aufsteigen zu Gott“ – Verklärung, schon vor dem Tode (30. März 1912).
Verklärt werden, spätestens nach dem Exodus, natürlich auch seine Romangestalten, deren ethisch-moralische Kraft kühn alle gordischen Knoten zerhaut im raffiniert geknüpften Netz exotischer Konflikte bei Geheimnisergründungen, Verwandten- und Schatzsuchen, Schurken- und Verbrechensentlarvungen. Das ereignet sich dann immer dort, wo auch landschaftlich an Höhe gewonnen ist.
„Auf den insgesamt höchsten Erhebungen der Helden-Reiserouten stört endlich nichts mehr den Einklang zwischen Himmel und Seele. Den Extrakt dieser Wechselbeziehung finden wir in der Gedichtsammlung ‚Himmelsgedanken’“, erfährt man von Gerhard Dahne, einem milden May-Freund, Spaßvogel und promoviertem Germanisten, der die messianische May-Poesie im Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld, Freiburg i. Br. (ohne Jahresangabe) herausbrachte. Das kleine Kompendium übernahm vor etwa drei Jahrzehnten der Ostberliner Union Verlag; man muss geduldig in den Tiefen der Antiquariate kramen. Oder einfach mal im Radebeuler May-Museum fragen…
Und findet womöglich, artig eingebunden, die fröhlich holpernden Reimereien des kühnen Sachsen: Tode kommt da auf Bote, Reich auf Steig (sächsisch: Steich), schneiden auf bereiten. Und verwegen okkupiert er zu guter Letzt den Stellvertreterschemel Gottes auf Erden zur lyrischen Heilsverheißung: Gottes Wort durch Karls wolkigen Mund in unser verschmelztes Ohr. – „O kehret gern, kehrt als Gebet zurück! / Ihr tönet nicht von unbekanntem Orte; / Ihr seid nicht leerer, wesenloser Schall. / Im Großen, frommverstandnen Weltaccorde / ist heilges Leben jedes Intervall.“ – Amen.