von Norbert Eisold
„Erinnern Heute Für Morgen“, das ist leichter gesagt als getan. Der „Totalkünstler“, wie er sich selbst nicht ohne Ironie nannte, Timm Ulrichs, nur zwei Jahre älter als Wieland Schmiedel, hat das Dilemma, das zwischen Erinnerung und Vergessen waltet, mit einem fingierten Grabstein für sich epigrammatisch und hintersinnig auf den Punkt gebracht. „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!“ ließ er in eine 1969 gesetzte Stele eingravieren, „Timm Ulrichs, 31.3.1940, Grabstein”.
Was ist das mit diesem „Erinnern“ und seinem Geschwister, dem „Vergessen“? Warum misslingen sie vielfach. Trotz bester Vorsätze. Andererseits verweigern wir uns ihnen. Verbieten uns das Vergessen oder verbarrikadieren uns gegen die Erinnerung, die uns heimsucht. Heimsuchung, das Wort beschreibt – ursprünglich ein Rechtsterminus – den „Überfall im Hause“, den „Hausfriedensbruch“. Den begeht die ungebetene Erinnerung in unseren Augen, sie betritt den als unverletzlich, als existentiell beanspruchten Rückzugsort unserer Person. Und was meint „Heute“, was „Morgen“? So klar trennen lassen sich dieses beiden Zeit-Räume doch nur auf dem Papier, in der Sprache und vielleicht im Denken.
„Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“ Wenn es so kausalistisch einfach wäre, wie es Heinrich Heine ins Zitaten-Buch menschlicher Aufklärung diktierte! In Wirklichkeit – aber was wäre Wirklichkeit? – in Wirklichkeit fließen beide doch permanent in das so genannte „Vergangene“ ab, oder? („Die Zukunft ist ein schöner Ort und wenn du da bist, ist sie fort.“) Nein. „Das Vergangene“, so Christa Wolf am Beginn ihres Romans „Kindheitsmuster“, einen Satz William Faulkners zitierend, „ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“
In einem von disparatesten historischen Ereignissen schraffierten Erfahrungs-Raum hat Wieland Schmiedel, 1942 in der ostdeutschen Industriestadt Chemnitz geboren, von Anfang an versucht, sich mit seinem künstlerischen Werk von der in uns, unseren Verhältnissen und Handlungen lastend fortlebenden Vergangenheit nicht abzutrennen, sich nicht fremd zu stellen, im Gegenteil. Er suchte, Mittel und Formen für sich als Person und Künstler zu finden, um das offenbar Unvergängliche – was für ein irritierend schillerndes Wort! – in doppeltem Wortsinn begreifbar zu machen. Dabei kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, dass es mir anfangs vielfach schwer fiel, allein das längere Anschauen mancher seiner Figuren auszuhalten, geschweige denn ihm nachzugehen, in ihrer „Zerstörtheit“ ihr Leben, ihre Wahrheit und letztlich ihre Schönheit zu entdecken oder sie gar zu berühren. Sie laden nicht zur Einfühlung ein, sie scheinen den Betrachter bewusst distanzieren zu wollen.
Es gibt ein sehr eindrückliches Gedicht von Inge Müller (1925–1966) zum Vietnam-Krieg, das dieses Phänomen auf medialer Ebene beschreibt und das ich Ihnen hier zitieren will, weil ich der Überzeugung bin, dass sich Kunst immer noch am deutlichsten der Kunst zu nähern vermag. „Nicht Mitleiden (täuscht euch nicht) / Die Angst zwingt da zum Wegsehen / Wir bluten aus den leicht vergessnen nie vergessnen / Uralten Wunden. […] Reiß den neben dir / Aus dem tödlichen Schlaf: Es ist nicht Vietnam / Hörst du / Es ist nicht Vietnam!“
Es ist nicht Aleppo. Es ist nicht Jugoslawien. Um sich der Bilder der nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Systeme ausbrechenden Jugoslawien-Kriege zu erwehren, treibt es Wieland Schmiedel großformatig zeichnend in Geschichte und Mythos, zu den „leicht vergessnen nie vergessnen / Uralten Wunden“. Diese „Wunden“ sind, so scheint es, längst Teil des genetischen Materials der menschlichen Gesellschaft. Um sich ihnen menschlich und künstlerisch jenseits bloßer Konstatierung nähern zu können und sich ihnen nicht ohnmächtig ausliefern zu müssen, hatte Schmiedel schon Anfang der 1980er Jahre die Umbindung skulpturaler Körper als künstlerisches Mittel für sich entdeckt. Immer wieder aufgegriffen, entwickelt und variiert, wird dieses Umbinden der Figur für ihn zu einer der zentralen, ambivalenten, weit in divergierende Bedeutungen ausgreifenden Metaphern seines Werks. Sie trennt das Gebundene von uns ab, ja! Doch sie transferiert das unabweisliche Geschehen in einer Sphäre erträglicher, bedenkbarer Gegenwart und möglicher Wandlung, vielleicht Verwandlung? Sie changiert von der Mumienhülle bis zum Wickelkind, von der entleerten Hülle bis zum pulsenden Kokon.
Mit einer Ausnahme, der „Kassandra“ betitelten Plastik aus dem Ende der 1970er Jahre, sind alle Arbeiten dieser kleinen Ausstellung mit Blick auf das Thema sicher nicht zufällig wesentliche Beiträge dazu, von der „Kore“ aus dem Jahr 1988 bis zur „Formsprengung“ – „ohne Innerei“, wie mir Wieland Schmiedel lakonisch aus der Vorbereitungsphase der Ausstellung vor ein paar Wochen schrieb. Diese „Innerei“ bestand in der ersten Fassung des Werks aus einer lebensgroßen, aus Binden gebildeten, kokonartigen männlichen Figur und die Arbeit war in Ergänzung zu „Formsprengung“ in Klammern auch als „Auferstehung“ betitelt. Dass dieser Kokon nun fehlt, weist nicht folgerichtig darauf hin, dass eine wie auch immer geartete Auferstehung imaginiert werden soll. Der Bildhauer beschränkt sich auf das für ihn Andeutbare. Streng kalkuliert, wie auf einem geistigen Reißbrett, sprengt er eine Form. Er öffnet etwas und lässt die irritierende Leere unkommentiert bestehen. Auf mehr hat er in diesem Bild keinen Zugriff und mir schwant, dass auch der unsere auf uns selbst und unsere Welt ein sehr, sehr beschränkter ist, ganz anders, als es uns die SEK-Einsätze in den alltäglichen Krimistaffeln der öffentlich-rechtlichen Märchenersatzprogramme weismachen wollen. Eine aufgesprengte Form, die leer ist, mehr nicht. Das nenne ich Demut, eine vermessene Demut, eine Demut, die der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. Was Ihnen vielleicht etwas zu pathetisch erscheinen mag, etwas aus der Welt. Nicht zielführend. Ja, was denn sonst? Ein Ziel dieser Art kennt Kunst nicht. Sie ist keine Waffe, mit der man auf etwas zielen könnte. Sie ist, im besten Sinn, nicht zu gebrauchen.
„Erinnern Heute Für Morgen“. An was könnte uns Kunst heute erinnern, richtiger gefragt vielleicht, was kann sie uns bedeuten (im Sinne von andeuten), was Geschichtsbücher nicht können. Einen „Begriff“, eine Ahnung, ein Bild, einen Schimmer, einen goetheschen „Abglanz“, wo uns Begriffe ausgehen oder das Begreifen versagt, das Unsägliche als ungeliebtes Geschwister des Unsagbaren erscheint? Die Form sprengen? Das verminte, vom Gestrüpp der Zeit zugewachsene Gelände unserer Sinne öffnen, den Blick auf die Knochen der Welt, das nicht Anwesende, das Flüchtige, das naturhaft Fragile und Ambivalente unserer Existenz, die uns letztendlich unverfügbar bleibt, wie die Kunst, auch wenn wir scheinbar nicht damit aufhören können oder wollen, unsere Verfügungen über sie zu treffen.
Norbert Eisold, Autor und Kunsthistoriker, ist Vorstandsmitglied und Ausstellungsleiter des „Forum Gestaltung e.V.“ in Magdeburg. Sein Text wurde am 9. April 2017 im Rahmen der Ausstellungseröffnung mit Skulpturen und Zeichnungen von Wieland Schmiedel auf der Burg in Neustadt-Glewe gehalten. Die Ausstellung mit dem Titel ERINNERN HEUTE FÜR MORGEN lädt noch bis zum 28. Mai von Mittwoch bis Sonntag in der Zeit zwischen 11.00 und 16.00 Uhr zum Besuch ein.
Schlagwörter: Burg Neustadt-Glewe, Erinnern, Norbert Eisold, Plastik, Wieland Schmiedel