20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

Jugend-Stil

von Heino Bosselmann

Bedarf es, zumal in der Jugend, eines neuerlichen Vitalismus’ oder liegt darin schon eine expressionistische, futuristische, gar faschistische Gefahr? Belastbar sein, sich selbst überwinden, ja geradezu schinden können, erleben, dass es mit der Anstrengung erst richtig interessant wird, über die Bewährung in hohen Herausforderungen den Stolz auf die eigene Kraft entwickeln – gilt das noch was? Im weitesten Sinne sich selbst bewegen, statt auf das laue Versprechen der Pädagogik zu setzen, jeder werde schon noch dort abgeholt, wo er steht. Sich nicht mehr verlassen auf all die Nachteilsausgleiche, Förderpläne und aufgehübschten Noten, sondern sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. – Kampf statt Spiel? Maschinen statt Ersatzteile? Leistung statt Betreuung? Revolte statt Anpassung – wenn schon nicht politisch, dann kulturell? Große Gesundheit statt dauernder Therapie? – Sturm und Drang!
Im Ergebnis all der sozialdemokratischen Tröstungen gegenwärtiger Schulpolitik wird allenthalben ein Rückgang von Befähigungen beklagt, verhüllt von einer mehr und mehr entwerteten Zensierung und der Zertifizierung von allem und jedem. Über die Hälfte der Jahrgangskohorte geht locker als Abiturienten durch, deren Zeugnisse immer besser, deren Kompetenzen jedoch proportional dazu immer fragwürdiger aussehen. Die meisten davon werden durch die Bologna-Universitäten gepresst und dort in teilweise bizarr anmutenden Fachrichtungen zum Bachelor, der in der Grauzone zwischen Lohnarbeiter und Akademiker ein irgendwie einträgliches und keimfreies Auskommen sucht, weich um die Hüften, aber so freundlich wie politisch korrekt, immer witzig, nie konfrontativ, sondern so kooperativ, wie es schon die Morgenkreise an Grundschulen anerziehen.
Man beklage nicht allein defizitäre Kognition, Sprache und Kenntnisstände, sondern schaue sich die allzu flachen Amplituden der Empfindungen an, drängt sich doch der Eindruck auf, die Heranwachsenden haben vermutlich weniger ein Problem mit intellektueller Belastbarkeit als überhaupt mit ihrer Energiebilanz. – Ist es nicht schon ein Ergebnis des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik, also der Entropie, dass immer mehr immer amorpher werden, weil allzu viel gechillt wird, also irgendwie irgendwo abgehangen, so dass die einzige Aussicht auf Belebung im Genuss von einigen Büchsen Energy-Drinks liegt? Damit die Neuronen endlich mal ein bisschen feuern und der Puls in Gang kommt. Es muss ja nicht gleich von Adipositas und Haltungsschäden die Rede sein, obwohl die Entwicklung des Bodymaßindex‘ der Fünfzehnjährigen durch die letzten Jahrzehnte Wohlstandsgesellschaft eine Aufwärtskurve wie beim DAX erwarten lässt. Insofern immer mehr Entlastung als Belastung geboten wird, droht jene „Verhausschweinung“, von der Konrad Lorenz und Arnold Gehlen sprachen, beide freilich nicht nur erfrischende Denker, sondern gleichfalls konservative Reaktionäre.
Während in früheren Generationen die zum Schulausflug radelnden Primaner höflich darauf achteten, ihre älteren Herren Lehrer im Peleton zu halten, dürfte es heute umgekehrt sein: Die multifitten Best-Ager um fünfzig oder sechzig haben sich in Geduld zu üben, damit ihre kurzatmigen Söhne und Enkel überhaupt mitkommen. Rein physisch. Gibt es denn Gymnasiasten auf den Bolzplätzen? Sind die jungen Damen noch beim Volleyball? Diese Bilder drängen sich nicht gerade auf. Welchen Stand hat das Fahrrad als Geburtstagsgeschenk gegenüber einer neuen Nintendo-Konsole?
Gut, es gibt Fitness-Höllen, in denen sich nicht wenige als Schmiede ihres eigenen Körpers abschuften, um innerhalb der narzisstischen Selfie-Fleischbeschau passabel platziert zu sein. Ein einsames, verbissen durchgehaltenes Training, rein ästhetisch motiviert. Das geht einher mit argwöhnisch durchdachter Ernährung, um „aufzubauen“, um keine „Lauch“ mehr zu sein, sondern eine echte „Kante“. Aber selbst dieses Hantel-Pumpen ist passiv und quasi Einverleibung, wenngleich es der behäbigen Mehrheit ja durchaus guttäte, ihr weißes in rotes Fleisch zu verwandeln und für bessere Sauerstoffwerte im gelangweilten Großhirn zu sorgen. Man denke an die Reformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende. Welche Sehnsucht, das pupsige Indoor-Dasein zu verlassen, zum Lichtgebet, zur nächsten Wandervogel-Tour, zur Freikörper-Erfrischung.
Weshalb? Weil wichtige Lebensdinge für uns immerhin biologische Wesen eben doch im Natürlichen gründen. Und wenn es in einem erweiterten Sinne noch um Leidenschaften gehen mag, und sei es bei der Verteidigung unserer Demokratie, von der doch permanent die Rede ist, dann bedarf es dazu nicht zuletzt der Kraft und Ausdauer, ohne dass es gleich um Straßenschlachten ginge. – Insbesondere dann, wenn im Leben – Oft genug! – das Unberechenbare eintritt, braucht es mehr als eine anerzogene Vernunft, die letztlich weder den Einzelnen noch die Welt rettet.
„Die Überlegenheit der Natur über die Vernunft zeigt sich schon dadurch, dass man nichts mit Begeisterung tut, was man nur aus Vernunft und nicht aus Leidenschaft tut“, notierte der italienische Literat Giacomo Leopardi (1798–1837). Es ging ihm um die Überwindung der großen Langeweile, die ein allein der Ratio verpflichtetes Leben heimsucht, wenn es nicht mehr an die natürliche Vitalität anschließt. Zudem sah er eine Gefahr darin, dass natürliche, also noch weitgehend archaische, gewissermaßen ursprüngliche Völker den kultivierten und saturierten den Schneid abkaufen könnten: „Das völlig zivilisierte Europa wird eines Tages die Beute jener Halbbarbaren, die es aus den Weiten des Nordens bedrohen; und wenn diese Eroberer dann zivilisiert werden, kehrt die Welt wieder ins Gleichgewicht zurück. Solange es jedoch auf der Welt Barbaren geben wird oder Völker mit starken, vollen, überzeugenden, standhaften und von der Vernunft noch nicht berührten großen Illusionen, müssen die zivilisierten Völker ihnen zum Opfer fallen.“
Ja, ja, andere Zeiten, und das alles klingt nach Nietzsche vor Nietzsche oder Spengler vor Spengler und erinnert an Kafkas allzu sehr ignorierte Parabel „Ein altes Blatt“. Jedenfalls solange wir demokratisch beziehungsweise mittels Habermasscher Diskursethik irgendwie hinkommen. Zumal uns aus dem Norden ja keine Barbaren bedrohen, leben dort doch die in allem so vorbildlichen Skandinavier. Aber gibt es Konkurrenz aus anderen Himmelsrichtungen – östlich, eher noch südöstlich, gar richtig südlich? Vitale, potente, elastische Jungen aus dem Youth-Bulge von Regionen, in denen es aus beinahe darwinistischen, knallhart existenziellen Gründen erfordert ist, für Kraft und Durchsetzungsvermögen zu sorgen, mit Ergebnissen, die unsere Fitness-Beautys recht schwächlich aussehen lassen? – Die Idole der Heranwachsenden, ihre vom Gamecontroller bewegte Helden der PC-Spiele, sind allesamt durchtrainiert und führen permanent Krieg. Sie stehen ihren Mann genau in der Weise, wie es sich das dicke Kind vorm Bildschirm so sehr wünscht. Liegt darin ein Zeichen? Ein fatales?
Bisher ist es verwehrtes Terrain, darüber nachzudenken, zumal ja selbst der „Wehrgedanke“ als geradezu reaktionär gilt, nimmt man doch an, dass die Globalisierung zuerst die angeblich universal geltenden Bürger- und Menschenrechte als umfassende Friedens- und Toleranzgebote allüberall etabliert. Leistet sie das? Und funktionierten diese Weltbürgerrechte je so, wie es sich „der Westen“ idealistisch wünschte? So weit zurück liegen Algerien- und Vietnam-Krieg ja noch nicht, und der „Ewige Friede“ stellt sich nach wie vor eher auf
dem kleinsten Gottesacker ein, als dass er nach Kants Prognose in der großen weiten Welt walten würde.
Daher: Wenn es schon um Werte geht, dann könnte es irgendwann um deren Verteidigung gehen. Mag sein in einer Weise, für die zurückgelehnte Diskussionen von Talkshow bis Parlament und artige Referate im Sozialkunde-Unterricht nicht mehr ausreichen. Welche Werte würde unsere Jugend überhaupt noch mit dem Leben verteidigen, nicht zuerst als Bachelors, sondern als Citoyens?
Aber soweit muss man (noch?) gar nicht denken. Vielmehr täte überhaupt eine Erfrischung gut. Was denn sorgt über Media-Markt und Joy-Stick-Gaming hinaus noch für Erregung? Welcher Kick? Wo denn zacken die geringen Frequenzen der Lauheit mal aus? In der Liebe? Hoffentlich! Aber sicher darf man sich da nicht sein. Man frage nach Leidenschaften, danach, was ein Heranwachsender mit dem Begriff verbindet. Und wenn er überhaupt etwas damit anzufangen weiß, suche man zu erfahren, was er denn mit Verve betreibe. Man erwarte nicht zu viel.