von Gerd-Rüdiger Hoffmann
Meine Enkeltochter Milena geht gern in den Kindergarten. Und sie spielt gern Lehrerin. Als „Lehrbuch“ gibt sie mir das Bildwörterbuch des Niedersorbischen, würde jedoch nie auf die Idee kommen, nach der deutschen Bedeutung eines niedersorbischen Wortes zu fragen oder umgekehrt. Denn sie besucht einen Witaj-Kindergarten. Dort lernt sie nicht nur niedersorbische Lieder, sondern spricht in bestimmten Zusammenhängen, mit sorbischen Bezugspersonen, bei bestimmten Themen und bei gezielter Beschäftigung in der Gruppe mit immer größerer Selbstverständlichkeit diese Sprache. Übersetzen kann sie nicht, das würde der im Witaj-Projekt angewandten Methode widersprechen. Vielmehr drückt sie sich personen- oder anlassbezogen eben auf Deutsch oder auf Niedersorbisch aus. Denn anders als bei den immer mehr auch im Kindergarten angebotenen Englischstunden werden hier ausschließlich Fähigkeiten der Kinder genutzt, die sie ohnehin haben und ohne größere Anstrengung weiter entwickeln können. Diese Immersionsmethode gilt als die erfolgreichste beim Erlernen einer Zweitsprache. Die Zweitsprache wird bei ausgewählten Aktivitäten und von muttersprachlichen Erzieherinnen als Alltagssprache verwendet. Korrigiert werden die Kinder nicht, jedenfalls nicht anders als beim Erlernen ihrer Muttersprache Deutsch. Es gibt also kein Vokabellernen wie im Fremdsprachenunterricht. Forschungen belegen, dass besonders große Erfolge erzielt werden, wenn die Methode sechs bis sieben Jahre durchgehalten wird. Deshalb setzen ausgewählte Grundschulen in Brandenburg das Witaj-Projekt fort. An weiterführenden Schulen sind später selbstverständlich auch Grammatik und Vokabeln zu lernen. Einige Grundschulen der Niederlausitz bieten in ausgewählten Fächern auch Sachunterricht in dieser Sprache an.
Oft hört man sagen, dass nur Großeltern und Urgroßeltern die Sprache im Sorben/Wenden-Land retten könnten. Die Beobachtungen bei meiner Enkelin zeigen, dass es auch genau andersherum sein kann. „Witaj“, was „willkommen“ heißt und vor fast zwanzig Jahren in Brandenburg eingeführt wurde, ist so erfolgreich, dass inzwischen von den Jüngsten neue Impulse zur Bewahrung und Reaktivierung der Sprache ausgehen.
Trotzdem ist das Projekt gefährdet. Lehrkräfte sind ohnehin schwer zu finden, weil Schulbehörden selten motivieren, sondern eher nach Hürden zu suchen scheinen. Immer wieder wird versucht, den Sorbisch/Wendisch-Unterricht wie eine Lerngruppe eines fakultativen Mathematikleistungskurses zu behandeln: Wenn sich nur fünf oder zehn Kinder dazu anmelden, gibt es den Kurs eben nicht. Jetzt soll zum wiederholten Mal eine Mindestschülerzahl für die Genehmigung einer Witaj-Gruppe an einer Grundschule festgelegt werden. In einem Entwurf des Bildungsministeriums ist die Zahl 12 im Spiel. Schulrat und Bildungsministerium argumentieren, dass mit dieser oder auch einer anderen Zahl für die Betroffenen mehr Sicherheit erreicht werde. Schließlich könnte dann nicht irgendein Beamter nach Gutdünken entscheiden. Um es deutlich zu sagen: Kein Beamter darf eine Zahl festlegen. Auch eine Zehn, eine Fünf oder selbst eine Zwei in der Verordnung widersprächen übergeordnetem Recht – europäischen Vereinbarungen und vor allem der brandenburgischen Verfassung und dem Sorben/Wenden-Gesetz von 2014. „Kindern und Jugendlichen im angestammten Siedlungsgebiet der Sorben/Wenden, die oder deren Eltern es wünschen, ist die Möglichkeit zu geben, die niedersorbische Sprache zu erlernen und in festzulegenden Fächern und Jahrgangsstufen in niedersorbischer Sprache unterrichtet zu werden.“ So steht es im brandenburgischen Schulgesetz. Minderheitenpolitik setzt nun einmal die „Macht der größeren Zahl“ außer Kraft. Gerade darin bestehen die Größe und das zutiefst Menschliche beschlossener brandenburgischer Sorben/Wenden-Politik.
Natürlich ist zu wünschen, dass Witaj-Unterricht nicht nur für ein Kind organisiert werden muss. Aber abgelehnt werden darf dessen Begehren nicht. Es geht nie um das Ob, sondern immer nur ums Wie des Organisierens. Zwei sozialdemokratische Abgeordnete wiesen in der März-Landtagssitzung darauf hin, dass die Zahlenspiele den Witaj-Unterricht an vielen Schulen komplett verhindern könnten. Bereits jetzt melden sich in den meisten Jahrgangsstufen der sechs Witaj-Grundschulen weniger als zwölf Schüler zum Witaj-Unterricht an. Auch Sorbisch/Wendisch als Fremdsprache an insgesamt 20 Grundschulen wäre gefährdet. Eine linke Abgeordnete fragte nach, ob denn nicht ein grundsätzlicher Rechtsanspruch für alle, die es im Siedlungsgebiet wünschen, auf Unterricht in niedersorbischer Sprache bestehe. Minister Günter Baaske, schon sichtlich gereizt durch die Fragen seiner SPD-Kolleginnen, demonstrierte erneut, dass in seinem Ministerium kaum mit Empathie in dieser Frage zu rechnen ist. Pflichtaufgabe, mehr nicht. Aber das Ja nach der Frage zur Pflichtaufgabe kam von Baaske doch noch. Und der Vorsitzende der Linksfraktion stellte inzwischen klar, dass seine Fraktion eine Schulordnung ohne Mindestzahl für den Witaj-Unterricht durchsetzen möchte. Wobei natürlich pädagogische Überlegungen zu berücksichtigen sind, wenn es um die Größe von Lerngruppen geht. Im Interesse der Kinder könnte nach Kompromissen gesucht werden. Jahrgangsübergreifender Unterricht ist nicht die beste Idee, wie Erfahrungen zeigen. Zielvorgaben, also möglichst viele Kinder für Witaj zu gewinnen, wären wohl der bessere Weg. Gut wäre auch, Witaj attraktiver zu planen, eben nicht nur als Randstunde oder vorübergehende Pflicht. Damit wäre auch ein Beitrag von Schulverwaltung und Ministerium zur Förderung und Motivierung bei der Entwicklung des Sorbischen/Wendischen geleistet und der Eindruck entkräftet, dass Verhinderer am Werke sind. Aber noch einmal: Selbst wenn in einem Ort des Siedlungsgebietes nur ein Kind Niedersorbisch lernen möchte, hat es einen gesetzlichen Anspruch darauf.
Anlässlich einer Sitzung des Rates für sorbische/wendische Angelegenheiten beim Landtag in Peitz/Picnjo gab es Protest vor dem Tagungsort – und kluge Argumente während der Zusammenkunft. Überrascht waren Ratsmitglieder und Ministeriumsvertreter, dass eine kleine Minderheit so viele Menschen pro Witaj und gegen das unsinnige Zahlenspiel mobilisieren konnte. Mit Unterstützung der beiden Zeitungen Nowy Casnik und Serbske Nowiny werden Unterschriften gesammelt. Die Forderung ist klar: „Keine Schülermindestzahlen in Witaj-Sprachgruppen. Keine Kürzungen der Unterrichtsstunden für Witaj und für Sorbisch/Wendisch.“
Erste Reaktionen im Bildungsministerium lassen vorsichtige Hoffnung zu. Das größte Problem bleibt jedoch: Es wird zu wenig getan, um die Mehrheitsbevölkerung davon zu überzeugen, dass das Sorbische/Wendische ein Gewinn für alle ist. In Lehrplänen, in der Lehrerausbildung und in der Fortbildung fehlen verbindliche Festlegungen zur Vermittlung von Kenntnissen zur sorbischen/wendischen Kultur in der Lausitz. Deutlich wurde das im Zusammenhang mit den Anträgen zur Aufnahme einzelner Kommunen ins Siedlungsgebiet. In Unkenntnis der Rechtslage, einschließlich internationaler Vereinbarungen wie der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, wurde immer wieder nach Argumenten für eine Ablehnung gesucht. In ehemaligen Bergbaurevieren, wo im Zuge des Braunkohleabbaus fast ausschließlich sorbische/wendische Dörfer vernichtet oder umgesiedelt wurden, traf das in besonderem Maße zu. Kommunalverfassungen und Verwaltungsvorschriften wurden gegen Gesetze und Übereinkommen zu den Sorben/Wenden ins Spiel gebracht. Dabei heißt es in einer Handreichung des Bundesinnenministeriums deutlich: „Wie das Rahmenübereinkommen gilt die Sprachencharta in Deutschland als Bundesgesetz, das nachrangiges Recht – einschließlich der Landesgesetze – bricht und gegenüber sonstigen Bundesgesetzen grundsätzlich als das speziellere Gesetz anzuwenden ist.“
Wenn ein Antrag auf Aufnahme ins Siedlungsgebiet nach Prüfung abgelehnt wird, ist das zu akzeptieren, wenngleich eine andere Entscheidung wünschenswert und möglich gewesen wäre. Wenn aber die Ablehnung noch immer als Sieg der erst 1860 begonnenen Bergbautradition gefeiert wird, dann läuft etwas falsch im Lande. Wiedergutmachung ist vielleicht ein zu großes Wort. Aber wenigstens sollte doch mit dem Siegen über ein kleines Völkchen aufgehört werden, das die Geschichte und die heutige Kultur im Revier in bereichernder Weise prägt und weiterhin prägen sollte.
Ein Wort noch zu den Wörtern „Sorben“ und „Wenden“: Es ist zu akzeptieren, dass in der Niederlausitz viele als Wenden bezeichnet werden wollen, obwohl es die Unterscheidung nur im Deutschen gibt. Deshalb gibt es in offiziellen Dokumenten stets die umständliche Formulierung „sorbisch/wendisch“.
Schlagwörter: Brandenburg, Gerd-Rüdiger Hoffmann, Minderheitenpolitik, Sorben, Sprachunterricht, Wenden