von Wolfgang Brauer
Die Ahornallee in Berlin-Friedrichshagen ist eine stille Vorstadtstraße. Der Lärm des inzwischen auch die Idylle Friedrichshagens zerstörenden Großstadtverkehrs ist kaum vernehmbar. Wäre die Straße nicht beidseitig zugeparkt und wären nicht einige der im seinerzeitigen „Landhausstil“ errichteten Häuser der wilhelminischen Ära schlecht gekonnt „auf modern“ getrimmt worden – man könnte jederzeit gewahr sein, von einem pickelbehaubten Schutzmann angeschnarrt zu werden, was man denn hier zu suchen habe… Wir suchen Literaten, die zu allen Zeiten misstrauisch Beäugten.
Die Ahornallee war einmal für gewisse Zeit so etwas wie eine der Hauptstraßen der deutschen Literatur. Hier wohnten in den 1890er Jahren die Brüder Heinrich und Julius Hart, Wilhelm Bölsche lebte hier von 1894 bis 1901. Zwischen 1901 und 1902 verkroch sich Erich Mühsam in einem ofenlosen Hofgebäude – aber mit günstigem Fluchtfenster „hinten raus“ – vor der Politischen Polizei Preußens. Hier verkehrten Richard Dehmel, Gustav Landauer und Peter Hille. Bruno Wille wohnte nicht weit entfernt in der Kastanienallee. Um die Genannten sammelte sich in jenen Jahren der legendäre „Friedrichshagener Dichterkreis“, über den man im kleinen, liebevoll geführten Museum „Friedrichshagener Dichterkreis“ im Antiquariat Brandel in der Scharnweberstraße 59 Interessantes erfahren kann. Derzeit läuft dort eine Ausstellung über „die Friedrichshagener“ in den Akten der Politischen Polizei. Die Herren waren nicht nur Poeten. Sie neigten zu Weltverbesserungsplänen, waren Sozialisten und Anarchisten und dergleichen Gefährliches.
Jahrzehnte später erlebte der Dichterkreis wiederum in der Ahornallee eine Neuauflage: „er hat zwei ordentliche Mitglieder, welche (laut Satzung) gleichzeitig die Präsidenten darstellen und (laut Satzung) immer Recht haben“. Es handelte sich um den Verfasser dieser bemerkenswerten Selbstdarstellung, Johannes Bobrowski, und Manfred Bieler. Es gab noch drei „Ehrenmitglieder“: Günter Bruno Fuchs, Lothar Kusche und Robert Wolfgang Schnell. Zum „korrespondierenden Mitglied“ wurde der West-Berliner Verleger Klaus Wagenbach ernannt. Auch wenn das ganze Unternehmen vor Selbstironie nur so strotzte (wo gibt es das heute noch, uns hat der Ernst des Lebens überrannt): Die Ahornallee 26 war zwischen 1953 und 1965 einer der wichtigen deutschen Literaturorte. Hier lebte „das Bindeglied zwischen den Schriftstellern der DDR und der Bundesrepublik, […] ein Genie der Freundschaft“ (Hans Werner Richter). Hier wohnte Johannes Bobrowski, der als Verlagslektor täglich den langen Weg in das Stadtzentrum zurücklegte und zum eigenen dichterischen Arbeiten nur in der S-Bahn, an den Abenden und am Wochenende kam. Und auch dazu waren ihm nur wenige Jahre gegönnt – das Werk fand in vier Bänden einer einst auf sechs konzipierten Werkausgabe „seines“ Union Verlags Berlin Platz.
Über dessen Entstehungsumstände, präziser die Friedrichshagener Jahre des Dichters Johannes Bobrowski, gibt Klaus Völkers nunmehr in einer dritten überarbeiteten und veränderten Auflage erschienenes, äußerst lesenswertes „Frankfurter Buntbuch 42“ Auskunft. Der profunde Bobrowski-Kenner Völker ist Vorsitzender der Johannes-Bobrowski-Gesellschaft e.V. und war mit dem Dichter befreundet. Die „Buntbücher“-Reihe ist übrigens ein bibliophiles Kleinod …
Wer das von Gerhard Wolf 1971 liebevoll beschriebene Arbeitszimmer Bobrowskis sehen will, muss sich allerdings nach Litauen begeben. In Vilkyškiai (Willkischken) – wenige Kilometer vom heute russischen Tilsit (Sowjetsk) entfernt – wurde es im dortigen Bobrowski-Museum wieder aufgebaut. Klaus Völker zeigt den leer geräumten Raum der Wohnung an der Ahornallee auf einem ganzseitigen Foto. Berlin pflegt einen hundsmiserablen Umgang mit seinen Dichtern. Dichter-Museen sind hier – die große Ausnahme ist Bertolt Brecht – undenkbar. Wenigstens hat sich die Stadt durchringen können, sein Grab auf dem nur wenige hundert Meter vom Wohnhaus entfernten Friedrichshagener Friedhof als „Ehrengrab“ zu deklarieren.
Eine Ehrung ganz anderer Art legte Andreas Degen bereits 2015 im Verlag für Berlin-Brandenburg vor. Degen versammelte Texte von 63 Autoren, die sich mit Johannes Bobrowski und seinem Werk auf unterschiedlichste Art („an, über und gegen“) auseinandersetzten in einem Band, den er „Sarmatien in Berlin“ nannte. Um es vorweg zu sagen: „Gegen“ Bobrowski äußert sich eigentlich nur Peter Huchel in einem Brief aus dem Jahre 1963. Huchel beklagt das Fehlen eines „menschlich noblen Wortes“ in einer Situation, in der es ihm bitter Not getan hätte – und das Bobrowski aus welchen Gründen auch immer unterließ. Ansonsten ist Degens Anthologie ein beeindruckendes Zeugnis für die Wirkungsmächtigkeit des Dichters aus Friedrichshagen, dessen 100. Geburtstag wir am 9. April begehen können: Christa Wolf, Nicolas Born, Durs Grünbein, Herta Müller, Ingo Schulze – um nur einige zu nennen – bekennen sich ausdrücklich zu dieser Einflussnahme. Franz Fühmann, Degen zitiert dessen Ungarn-Tagebuch „Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens“ (1973), räumt ein, dass es Bobrowski war, der ihm half, dem „eigenen Lied“ nicht mehr „auf die Kehle“ zu treten: „… aus der Geschichte läßt sich nichts tilgen.“ Damit meinte Fühmann die Geschichte eines ehemals auch deutschen europäischen Ostens, jenes geografischen Raumes, den Bobrowski mit dem Begriff „Sarmatien“ zu fassen suchte. Paul Celan wies zehn Jahre vor Fühmanns Tagebuch-Äußerung im Gedicht „Hüttenfenster“ auf eben diese Ambivalenz des Umgangs auch des ehemaligen Wehrmachtssoldaten Johannes Bobrowski hin, der – Klaus Völker berichtet darüber – Zeuge der deutschen Pogrome im Baltikum wurde. Celan schreibt „vom Schwarzhagel, der / auch dort fiel. In Witebsk, // – und sie, die ihn säten, sie / schreiben ihn weg / mit mimetischer Panzerfaustklaue! –,“.
Die Heftigkeit dieses Vorwurfs ist an Bobrowskis Adresse natürlich ungerecht. Sie stellt sich auch erst durch das Ordnungsprinzip des Herausgebers ein, aber vollkommen fehl geht sie nicht. Erinnern wir uns an Franz Fühmann, der einmal einräumte, er habe Glück gehabt, nicht zu den Wachmannschaften in Auschwitz abkommandiert worden zu sein. Wer sich ernsthaft auf Bobrowski einlässt, betritt „sarmatischen Boden“. Und der ist blutgetränkt, seit Jahrhunderten.
Stephan Hermlin bezeichnete in seiner Grabrede für Johannes Bobrowski dessen Dichtung als „Widerhall des Herzens“. Davon findet sich manches in Andreas Degens Band. Einiges ist auch nur ärgerlich. In den Widmungsgedichten „an“ Bobrowski wabert förmlich das „Du“. Das riecht schnell nach Anbiederei, da ist Misstrauen angesagt. Nicht alles hält dem selbstgewählten Maßstabe stand.
Hervorzuheben ist die sorgsame Gestaltung des Bandes. Man findet so etwas nicht mehr allzu häufig in den Regalen des Buchhandels.
Klaus Völker: Johannes Bobrowski in Friedrichshagen 1949–1965. Frankfurter Buntbücher 42, Kleistmuseum/Verlag für Berlin-Brandenburg, Frankfurt/Oder und Berlin 2016. 32 Seiten, 8,00 Euro.
Albert Burkhardt: Der Friedrichshagener Dichterkreis. Ein Rundgang auf den Spuren der Dichter (Friedrichshagener Hefte 14), Antiquariat Brandel, Berlin 2016. 40 Seiten, 6,00 Euro (zu beziehen über Antiquariat Brandel, Scharnweberstraße 59, 12587 Berlin).
Andreas Degen (Herausgeber): Sarmatien in Berlin. Autoren an, über und gegen Johannes Bobrowski. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2015. 192 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: Friedrichshagen, Johannes Bobrowski, Litaeratur, Wolfgang Brauer