von Erhard Crome
Gibt es eine regierungspolitische Alternative zu Angela Merkel? Sie selbst meint, nein. Andere meinen, sie sei ein Fels der Stabilität in der Brandung unerwarteter Sturmfluten, sei es der Brexit, sei es US-Präsident Trump, seien es die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Europäischen Union. Aber ist zu erwarten, dass von ihr noch ein Impuls für innenpolitische Veränderungen in Deutschland kommt, nach zwölf Jahren als Regierungschefin?
Allerdings sind in diesem Lande grundstürzende Wandlungen des Parteiensystems, wie sie derzeit andere Länder auf Trab halten, nicht zu erwarten. Das meint praktisch: anstelle einer christdemokratischen Kanzlerin ist nur ein sozialdemokratischer Kanzler denkbar. Der war jedoch lange weit und breit nicht zu sehen. Nachdem Gerhard Schröder die Bundestagswahl 2005 knapp gegen Angela Merkel verloren hatte, traten mit Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück SPD-Kandidaten an, die wie Schröder für eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik standen. Sigmar Gabriel gehört ebenfalls dazu. Und lange Zeit wurde allenthalben davon ausgegangen, er würde 2017 der Kandidat sein.
Die Umfragen stagnierten seit der Bundestagswahl 2013. Eine „Ampelkoalition“ von SPD und Grünen mit der Lindner-FDP, der der Wiedereinzug in den Bundestag inzwischen wieder zugetraut wird, ist unwahrscheinlich, selbst wenn es zahlenmäßig reichte. Bliebe eine rot-rot-grüne Machtoption. Doch noch vor wenigen Wochen kamen die SPD auf 20 Prozent, Linke und Grüne auf je neun Prozent, zusammen 38 Prozent. Das wäre nach damaligem Stand ein Wähleranteil, wie ihn die CDU/CSU mit 37 Prozent allein hatte (ARD-Deutschlandtrend, 6. Januar 2017).
Inzwischen ist von einem „Schulz-Effekt“ die Rede, der habe alles verändert. Nach den jüngsten Umfragen der Institute Emnid und Forsa (4. und 8. März 2017) liegt die SPD mit der CDU/CSU etwa gleichauf: 32 Prozent SPD zu 33 Prozent Christdemokraten. Rechnet man Rot-Rot-Grün zusammen, kommen sie bei beiden Instituten auf 47 Prozent, während ein „bürgerliches“ Lager aus CDU/CSU, FDP und AfD rechnerisch ebenfalls auf 47 Prozent käme. Das Erfurter „Institut für neue soziale Antworten“ INSA (7. März) des früheren thüringischen CDU-Staatssekretärs Hermann Blinkert sieht die SPD sogar vor den Christdemokraten: 31,5 zu 30,5 Prozent. Nun gelten Blinkert und INSA inzwischen als eher der AfD zugeneigt. Die Zahlen dieses Instituts lagen jedoch bei allen Landtagswahlen 2016 näher am späteren Wahlergebnis als die anderer. Der Trend zu mehr SPD scheint offensichtlich, ein Merkel-Sieg nicht mehr unabwendbar.
Hier ist an die Befunde der Politikwissenschaft zu erinnern. In einem Parteiensystem suchen „politische Eliten“ oder besser: ein jeweils spezifisches politisches Personal Unterstützung bei möglichst breiten Wählerschichten, die ihrerseits hoffen, so Einfluss auf die politische Gestaltung unter der Voraussetzung der Demokratie zu nehmen. Wahlen dienen der Bekräftigung oder Ablehnung solcher Unterstützung. Der Politikwissenschaftler Karl Rohe betonte: „Parteiensysteme und damit die Beziehungen zwischen Wählern und politischen Eliten bedürfen der ständigen Pflege und symbolischen Erneuerung […]. Der Wandel von Parteiensystemen kann seine Ursache nicht nur darin haben, dass ihre gesellschaftliche Basis gleichsam ‚weggerutscht‘ ist, sondern auch darin, dass politische Eliten es bewusst oder unbewusst versäumt haben, die ‚politische Koalition‘ mit bestimmten Wählersegmenten stets aufs Neue symbolisch zu erneuern.“
Beraten von Analytikern, die meinten, die Arbeiterschaft hätte keine große Bedeutung mehr und es sei besser, die SPD mittig zu positionieren, und unter dem Druck der Unternehmerverbände sowie der angeblichen Sachzwänge der sich globalisierenden Weltwirtschaft hat die Sozialdemokratie unter Schröder mit der „Agenda 2010“ ihre soziale und politische Basis in erheblichem Maße verstoßen. Der Reformbegriff erschien für weite Teile der Bevölkerung fortan negativ; bedeuteten „Reformen“ unter Willy Brandt und Helmut Schmidt politische Maßnahmen zugunsten der Arbeitenden und sozial Schwachen, so waren Reformen fortan in eins gesetzt mit Sozialabbau und Schlechterstellung der Arbeiter, Angestellten, Kleingewerbler und sozial Schwachen. Die SPD-Führung hatte die politische Koalition mit ihren früheren Wählerschichten aufgekündigt.
Die SPD wählten 1998, als Schröder erstmals Kanzler wurde, mit der Zweitstimme 20,18 Millionen Wähler. Die CDU/CSU erhielt 17,33 Millionen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 82,2 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 bekamen die Christdemokraten 18,16 Millionen Stimmen (also nicht signifikant mehr, als 15 Jahre zuvor), die Sozialdemokraten jedoch nur 11,25 Millionen; die Wahlbeteiligung betrug 71,5 Prozent. Die SPD hat infolge der Schröder-Politik fast jeden zweiten Wähler verloren. Die sind aber nicht unbedingt zu anderen Parteien gegangen, sondern blieben oft zu Hause – davon zeugt der anhaltende Rückgang der Wahlbeteiligung. Zugleich wollten immer weniger Parteimitglieder diese Politik vertreten. Als Schröder 1998 anfing, hatte die SPD etwa 775.000 Mitglieder, als er 2005 aufhörte 590.000 Mitglieder. Ende 2016 waren es noch fast 433.000. Das erklärt sich nicht nur mit allgemeiner Parteienverdrossenheit.
Nun also Schulz. Zunächst passt es: frühere sozialdemokratische Kanzler hießen Müller, Schmidt und Schröder. Da passt Schulz schon vom Namen her, gleichsam als Mann von nebenan. Mental und vom Auftreten her ebenfalls. Es ist ein Personalwechsel innerhalb des sozialdemokratischen Tableaus. Gabriel hatte es durch geschicktes Taktieren geschafft, Steinmeier zum Kandidaten der Großen Koalition für das Amt des Bundespräsidenten zu machen. Anschließend entschied er sich, nicht als Spitzenkandidat der SPD zur Bundestagswahl anzutreten, sondern Martin Schulz, der zuvor EU-Politiker war und von Gerhard Schröders asozialer Kürzungspolitik optisch unbelastet, den Vortritt zu lassen. Der sollte Kanzlerkandidat und Vorsitzender der SPD werden. Dafür reservierte sich Gabriel den Posten des Außenministers.
Der Vorgang hat bereits die Veränderung der Umfrage-Ergebnisse gebracht. Nach Angaben der SPD sind seither auch 10.000 neue Mitglieder zu verzeichnen. Das sind mehr Neuzugänge als im ganzen Jahr 2015. 40 Prozent der Neumitglieder seien jünger als 35 Jahre. Das bedeutet, 60 Prozent sind älter – hier ist davon auszugehen, dass etliche Mitglieder Wiedereintritte sind, die wegen Schröder gegangen waren. Das erhofft sich die Parteispitze offenbar auch in Bezug auf die Rückgewinnung von Wählern. Schulz bedient das, indem er schon angekündigt hat, im Falle seiner Wahl Teile der „Agenda“-Gesetze rückgängig machen zu wollen.
Die neoliberale Lobby-Plattform „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ schreit Zeter und Mordio, schaltet ganzseitige Anzeigen dagegen und erinnert den „lieben Martin“: „Deutschland war der kranke Mann Europas. Jetzt stehen wir dank der Agenda 2010 wieder gut da.“ Finanzminister Wolfgang Schäuble vergleicht Schulz mit Donald Trump und sein Schwiegersohn, CDU-Vize Thomas Strobl, meint, Schäuble habe recht, jetzt sei „die Abteilung Attacke in der Union gefragt“.
Ob das SPD-Kalkül aufgeht, wird der Wähler entscheiden. Dass Schulz nicht als Anti-Politiker daherkommen kann, nachdem er jahrelang in Brüssel aktiv war, scheint offensichtlich. Als Parlamentspräsident hat er aktiv für das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada agiert; als dies wegen eines Einspruchs aus Belgien zu scheitern drohte, tat er alles zur Aufrichtung einer Drohkulisse, um den Widerstand zu brechen. Dennoch scheint es wie oft mit den Sozialdemokraten: sie sind möglicherweise das kleinere Übel. Vielleicht gibt es auch einen Stimmungs-Trend gegen Merkel: Zwölf Jahre sind genug.
Schlagwörter: Agenda 2010, Erhard Crome, Martin Schulz, Parteiensystem, SPD