20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal hohe Spielkunst im Psycho-Dämmer sowie im grellweißen Lichtkasten und ein Buh für Bilderstürmerei im Bühnenbetrieb…

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Sie ist wieder da! Die unvergleichliche, zu den wundersamsten Wandlungen, zu den verrücktesten Vieldeutigkeiten fähige Schauspielerin Anja Schneider. In Leipzig fing sie einst an, wurde von Armin Petras ans Berliner Gorki geholt, ging mit ihm fort nach Stuttgart. Und jetzt spielt sie endlich wieder in Berlin, wo sie hingehört: Im Deutschen Theater. Zum Einstand bekam sie, wie sich’s ziemt für eine solche Künstlerin, eine zünftige Rolle: Die der Amanda Wingfield, eigentlich die Hauptfigur in Tennessee Williams Sehnsuchts- und Vergeblichkeitsstück „Die Glasmenagerie“. Da kann sie so vieles in einem sein: Haus- und Muttertier, durchtriebenes Doofchen, Getretene, peinlich Lüsterne, um sich Schlagende, Komische, Biedere, Böse, Ängstliche. Eine Todunglückliche, die tapfer die Tränen wegsteckt, die immerzu aufs Daseinsglück setzt, aber leer ausgeht. Die Schneider kann da ganz groß aufdonnern. Oder ganz fein sein, hinterrücks, beiläufig, nur mit einer Geste, einem Blick, einem besonderen Ton.
„Glasmenagerie“ handelt von der US-Prekariatsfamilie Wingfield im tiefen, sommerheißen US-amerikanischen Süden. Der Vater hat sich längst aus dem Staub gemacht, die verlassene Ehefrau Amanda, eine dahinwelkende Schönheit, ist die energische, rechthaberische, beschützende und selbst ach so schutzlose Mama, die sich krampfhaft müht um Aufrechterhaltung häuslicher und restfamiliärer Ordnung. Und obendrein um ein womöglich doch noch sexy Liebesglück. Tochter Laura (Linn Reusse frisch von der Schauspielschule), ein fragiles Seelchen mit körperlicher Behinderung und gigantischen Minderwertigkeitskomplexen, verkriecht sich lebensscheu in der schönen Schallplattensammlung, die ihr getürmter Papa zurück ließ. Sowie in ihrem Zoo aus gläsernen Tierchen, eben der Glasmenagerie. Sohn Tom (Marcel Kohler) malocht als alleiniger Ernährer in der Fabrik, träumt sich heimlich im Kino fort in tolle Abenteuer und will raus aus der spießigen Enge und weit weg: als Matrose auf See.
Das schimpfende, wütende und heulende Elend der drei Frustbeulen, die sich, um ihren tristen Alltag auszuhalten, in Illusionen und Träume flüchten; die freilich sofort wieder wie schillernde Seifenblasen platzen, das ist ein Kreislauf, der immer schmerzlichere Wunden schlägt. Und als Mama schließlich ein Rendezvous mit Jim organisiert (Holger Stockhaus), damit das jüngferliche Töchterchen endlich unter die Haube kommt, geht auch das total in die Hose.
Williams gelang 1944 der weltweite Durchbruch mit diesem psychologisch fein ziselierten Kammerspiel; das atmosphärisch aufgeladen ist von vielen Facetten einer großen Vergeblichkeit und verklemmten Erotik, die da implodieren oder explodieren. So gesehen passiert viel; aber eigentlich passiert bloß erstickender Stillstand.
Diese Erstickung sowie die heftig hechelnden Seelen ‑ was für Wechselbäder. Regisseur Stephan Kimmig ist unentwegt quasi mit der Lupe den Brüchen, den Stolperstellen über Abgründen auf der Spur. Seine Inszenierung wogt, federt, vibriert. Changiert zwischen Eis und heiß, entfesselt Stimmungen ‑ himmlisch entrückt im Wolkenkuckucksheim oder trostlos ernüchtert im Keller der Enttäuschung. Kimmig lässt volles Rohr Gefühle zu.
Seine hinreißenden Spieler lassen sich das alles nicht zweimal sagen. Immer turnen sie hohen Muts auf dem Drahtseil – turnen gar im Wortsinn als Slapstick-Komiker, toben als Tanzmäuse oder tasten sich verschämt-verschüchtert durch die Düsternis ihrer öden, verschlissenen Wohnhöhle. Doch keiner der dauerhaft unter Psycho-Hochdruck stehenden Beschädigten und Trostlosen stürzt bei all den depressiv-euphorischen Exzessen je ab in Peinlichkeit und Kitsch, ins aufdringlich Schwerblütige oder schwiemelnd Gefühlige.

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„Hoch lebe das Ensemble!“, schallt es allenthalben aus allen Ecken und Enden Theater-Deutschlands. Es gibt aber auch Leute, die dagegen sind. Entweder, weil sie nicht untergekommen sind in Ensembles, oder weil sie – womöglich arg unterbeschäftigt ‑ gern spektakuläre Debatten lostreten wollen. Mit unschöner Regelmäßigkeit schlägt denn also irgendwo ein selbsternannter Umstürzler des Theaterbetriebs wild und aufmerksamkeitsheischend in den Medien um sich. Und verkündet, wie gerade erst jetzt wieder, die Notwendigkeit der Abschaffung des angeblich durch Subventionierung strukturverkrusteten Ensembletheaters. Denn nur so sei der Fortbestand des Theaters (welchen Theaters?) zu retten. Dabei wird selbst beim laienhaften Blick aufs weithin praktizierte Modell Ensemble- und Repertoiretheater sofort offensichtlich, dass es total beweglich, offen und längst total verschlankt ist. Diese immer wieder anzutreffende Blindheit veranlasste Oliver Reese, den höchst erfolgreichen Chef vom Schauspiel Frankfurt/Main (ab Herbst Nachfolger von Direktor Claus Peymann am Berliner Ensemble), zu einem öffentlichen Zwischenruf. Grundsätzlich stellt er da eins klar: nämlich, dass sich die Identität eines Hauses durch die Integrität seines Ensembles vermittele. Das heißt: „Es sind fest engagierte Schauspieler, diesem Haus verpflichtet, mit Vertrag und mit Herzblut unterschrieben, mit der gegenseitigen Verpflichtung, sich über Regisseure und Stücke zu entwickeln, also Schauspieler, denen das Publikum vertraut, auf die man sich freut.“

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Herr Hamm kann nicht stehen; klebt am Rollstuhl, Knecht Clov kann nicht sitzen und läuft immerzu herum; nebenan in zwei Mülltonnen stecken Nagg und Nell, Hamms Eltern, seine „verfluchten Erzeuger“, beide ohne Beine. „Nichts ist komischer als das Unglück“, kommentiert Samuel Beckett beiläufig die vertrackte Lage der Vier, die weder miteinander noch ohneeinander können und gepeitscht werden von der qualvollen Sehnsucht, dass endlich Schluss sei mit diesem Unglücksspiel, das man euphorisch Leben nennt. Doch immerhin: Sie reden! Reden unentwegt mit sich, übereinander oder aneinander vorbei und stecken fest in dieser rhetorischen Endlosschleife. Deshalb der Titel „Endspiel“ für diesen Klassiker des absurden Theaters.
Der Amerikaner Robert Wilson (75) hat ihn im Berliner Ensemble inszeniert, wo ihm Intendant Claus Peymann eine kostspielige Heimstatt gab für sein mit allerhöchstem Aufwand zelebriertes Bildertheater, das er einst in den 1970er Jahren erfand. Seither ist Wilson weltberühmt und gilt als Klassiker einer Schule machenden, streng stilisierten, raffiniert ritualisierten Inszenierungskunst. Zugegeben, mit der Zeit haben sich die magischen Effekte seines artifiziellen Zaubers abgeschliffen. Dennoch sind seine abstrahierenden Adaptionen großer Stoffe in Starbesetzung und musikalischer Grundierung durch Starkomponisten enorme Kassenerfolge.
Und jetzt also Becketts „Fin de Partie“, dessen philosophische Tiraden eingedampft wurden, um ordentlich Luft zu schaffen fürs genüssliche Ausbreiten von Wilsons hingebungsvoll gestylten optischen Obsessionen: Die feinen Farbtönungen aus Weiß und Grau mit gelegentlich rosa Tupfer, das zuckende Blendlicht oder das Flirren durch eine auf- und niedergezogene Jalousie. Dazu die wunderbaren, freilich total dressierten Schauspieler wie witzige Aufziehpuppen (Martin Schneider – Hamm, Georgios Tsivanoglou – Clov, Traute Hoess – Nell, Jürgen Holtz – Nagg).
Alles brillant ausgetüftelte Form, tolle Theatermechanik. Die aber doch allerhand Abgründe überdeckt, die da gähnen unter der grotesken Komik des Unglücks. Die von der Verzweiflung ablenkt, die das so grausam im Leben gefangene und nach Erlösung gierende Quartett quält. Wäre da nicht der große alte Herr des deutschen Schauspiels: Jürgen Holtz. Wie sein zart knirschendes Weiblein Traute Hoess nur mit dem Greisenkopf aus dem Bühnenboden ragend schleudert Holtz mit herunter gezogenen Mundwinkeln, ätzend bärbeißig und bis ins Mark böse krächzender Stimme seinen Daseinsekel heraus. Und lässt dabei tieftraurig doch ahnen, dass wohl auch ihm – ihnen beiden ‑ etwas wie Liebe oder Glück einst widerfuhr. ‑ Die beseelten, verstörenden, wirklich magischen Momente in diesem von Flimmern, Gleißen, Blitzen, Dämmern überzogenen Endspiel der Eleganz.